„Ich bin nicht glücklich darüber, was ich getan habe, aber es erschien mir die einzige Möglichkeit, den Fall aufzuklären. Kein Grund, das hier jedem auf die Nase zu binden“, zischte der Cop. „Und ich bin wahrlich nicht stolz darauf, möglicherweise den Tod eines Wachmanns verschuldet zu haben. Aber ich bin Cop, ich fange jetzt nicht an zu heulen. Die Stadt da draußen ist ein Dschungel, da gilt Fressen und Gefressen werden.“ Linus' scharfe Worte wurden durch sein zerknirschtes Gesicht arg ihrer Aggressivität beraubt.
Alois winkte gelassen ab. Er selber war moralisch hoch flexibel. In einer von Menschen beeinflussten Welt blieb niemand lange makellos. Um so erstaunlicher war es zu sehen, dass es Leute wie Linus gab, die tatsächlich so etwas wie Prinzipien hatten und sich schwer damit taten, dagegen zu verstoßen.
Jagelowsky warf ihm finstere Blicke zu, die Alois aber ignorierte. Statt dessen schaute er den vorbei eilenden Passagieren zu, die für die Wartenden im Transitbereich nur einen schnellen Seitenblick übrig hatten und dann schon wieder verschwunden waren. Einer der Menschen erregte jedoch seine besondere Aufmerksamkeit. Er stand vor der Plasmawand und las die Abfahrtzeiten der Fähren. Seine Körperhaltung ließ darauf schließen, dass sein linkes Bein entweder etwas kürzer oder verletzt war. Als der Mensch den Kopf ein wenig zur Seite drehte, konnte Alois sein Profil erkennen und sein Puls beschleunigte sofort. Er hatte sich nicht getäuscht, er kannte den Mann. Allerdings hätte der nicht hier sein dürfen. Er hätte überhaupt nicht sein dürfen. Alois' letzte Information über Myrner besagte, dass er in einer der Todeszonen auf dem Kontinent verschollen war. Der Mikrochip in seinem Ohr war schon vor Jahren verstummt. Allerdings wusste Alois nur allzu gut, dass man da sehr leicht selber für sorgen konnte. Und die kleine Narbe am Ohr nahm man gern in Kauf, wenn man dafür vom Radar der internationalen Sicherheitsdienste verschwand. Er selber trug ebenfalls solch eine Narbe und er ging davon aus, dass Myrners Ohr auch eine hatte.
Alois stand auf und wollte seinen ehemaligen Kameraden auf sich aufmerksam machen, stellte aber nach zwei Schritten fest, dass ihm noch jemand am Arm hing. Den Abgeschobenen hinter sich her zu schleifen, würde zu viel Aufmerksamkeit der falschen Art auf sich ziehen. „He, Myrner!“, rief er statt dessen. Er konnte sehen, dass der Kopf des Menschen kurz in seine Richtung ruckte, er sich dann aber eilig aus dem Infobereich entfernte. „Myrner!“, rief Alois erneut, was die Aufmerksamkeit einiger Passagiere erregte und sie machten einen noch größeren Bogen um den Troll. Die Grenzorks schienen nun ebenfalls Interesse zu entwickeln und begannen zu tuscheln.
„Was machst du denn?“, nörgelte Linus. „Wer war das?“
„Ein alter Bekannter.“
„Der offenbar entweder schwerhörig ist oder nichts mit dir zu tun haben will. Woran das wohl liegen könnte“, murmelte der Cop.
„Ich zwinge dich nicht, hier zu sein.“
„Ach? Das hörte sich in der Mail aber noch anders an.“
Alois schmunzelte ein wenig. Natürlich würde er sein Wissen über das illegale Verhalten des Cops zu seinem Vorteil benutzen, wann immer er es für lohnenswert hielt. So funktionierte die Welt nun einmal.
„Jetzt reg dich mal nicht auf. Dafür, dass du eigentlich Streife fahren müsstest, treibst du dich ganz schön viel einfach herum. Was sagen deine Vorgesetzten eigentlich zu deiner eigenwilligen Interpretation des Dienstplans?“
Linus blieb ihm die Antwort schuldig, denn in diesem Moment wurden die Passagiere im Transitbereich aufgerufen, ihre Fracht aufzugeben. Zollbeamte nahmen sowohl Alois' Menschen als auch die Familie in Begleitung der Orks entgegen. Linus filmte mit dem eKomm die Übergabe und schickte die Datei an Alois' Webadresse, der den Film an die Auftraggeber weiterleiten würde, sobald er zu Hause war. Nach wie vor legte seine fehlerhafte Cyberware elektronische Präzisionsgeräte lahm, daher besaß er kein eKomm mehr. Aber natürlich verlangten seine Auftraggeber einen Beweis, dass der Job erledigt war. Eine kurze Videosequenz mit der Signatur eines Polizei-eKomms würde ausreichen, um die Einhaltung des Vertrags zu belegen. Das war leicht verdientes Geld gewesen. Zufrieden grunzte der Troll, nickte den Grenzorks einen kollegialen Gruß zu und machte sich auf den Weg aus dem Hafenkomplex heraus. Seine Cyberaugen scannten dabei jeden Passagier, immer auf der Suche nach seinem alten Kollegen Myrner. Er musste sein Rufen gehört haben. Alois' Stimme war laut und tief und außerdem Myrner vertraut. Sie waren nicht verfeindet gewesen, es gab also keinen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen.
„Wie wäre es mit einem Bier zum Dank dafür, dass ich mal wieder meine Position missbraucht habe, um dir einen Gefallen zu tun?“, fragte Linus und folgte ihm.
„Meinetwegen“, brummte Alois und steuerte die erste Kneipe in den Docklands an, die er entdeckte.
„Ist sicher nur ein Frage von ein paar Tagen, bis der Typ auf einem anderen Schiff versucht wieder einzureisen“, sagte Linus im Plauderton, während sie sich an einen einigermaßen sauberen Tisch im hinteren Bereich der Kneipe setzten. Um diese Tageszeit waren vor allem Schichtarbeiter der Docklands hier anzutreffen, die sich über den Troll in Leder und den uniformierten Streifencop sicher wunderten, aber sie vollkommen in Ruhe ließen.
„Das liegt doch nur daran, dass die Grenzer auf dem Kontinent lieber die Hand aufhalten anstatt ihren Job zu machen.“
„Würdest du es anders machen?“, fragte Linus ungläubig.
„Nee, logisch. Ich meine ja bloß.“
„Immerhin gibt es Küstenpatrouillen, die einen Massenansturm verhindern. Stell dir mal vor, alle Bewohner der Fall-out-Zonen auf dem Kontinent würden versuchen auf die Insel zu kommen. Nicht auszudenken.“ Linus schüttelte sich bei der Vorstellung.
„Ganz verhindern kann man das wohl nicht. Immerhin haben die hohen Herrschaften des Parlaments inzwischen eingesehen, dass ein Wiederaufbau des zivilen Flugverkehrs keinen Sinn macht, um die Verseuchten wieder loszuwerden. Ich wohne in der Einflugschneise. Würde mir gar nicht gefallen, wenn da auf einmal ständig Fluglärm herrschte.“ Alois hatte bei der letzten Parlamentswahl dieses Thema sehr genau verfolgt und entsprechend seine Stimme abgegeben, damit das absolute zivile Flugverbot über der Insel weiterhin Bestand hatte. Sich mit den militanten Umweltaktivisten auf der selben Seite wiederzufinden, war für ihn eine völlig neue Erfahrung gewesen, die er nicht unbedingt wiederholen musste. Allerdings hatte er dabei diese heiße Orkbraut Abrruna kennengelernt, die..., nun, das hatte sich ja dann auch schnell wieder erledigt.
„Also, wer war der Typ im Transit? Dieser Myrner?“ Linus hatte leider die unangenehme Angewohnheit, Dingen auf den Grund gehen zu wollen und bewies dabei ein verdammt langes Gedächtnis. Gut für einen Cop, schlecht für Alois, wenn es um seine Privatsphäre ging.
„Ach“, brummte er und winkte ab. „War mal ein Kollege von mir.“
„Bei Jammer & Co ? Wie ein Anwalt sah der aber nicht aus. Kopfgeldjäger?“
Der Troll nickte vage. Kopfgeldjäger stimmte wohl, aber das war lange vor seiner Zeit bei Renatus Jammer gewesen. Er wurde nicht gern daran erinnert. Besser, er ließ Jagelowsky in dem Glauben, dass sie beide für die Anwaltskanzlei aktiv gewesen waren.
„Wenn du den genau so scheiße behandelt hast wie mich, dann wundert mich nicht, dass er es vorgezogen hat, dich zu überhören“, erklärte Linus mit deutlich besserer Laune als noch vor wenigen Minuten. Alois wusste, dass der Cop ihm nicht glaubte. Und da er wie alle Menschen sehr neugierig war, würde er Informationen einholen. Als Polizist saß er an der Quelle. Missmutig schnaufte der Troll und trank die Hälfte seines Bieres mit einem Zug. Dann verzog er das Gesicht. „Synthetikbier“, maulte er.
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