„Woran denkst du?“ fragt sie schließlich, als er geschlagene zehn Minuten ohne ein Wort zu sagen in sein Weinglas gestarrt hat.
„Hm?“
„Woran denkst du, habe ich gefragt.“
„Ach…“, brummt er und lehnt sich zurück, wobei seine linke Hand unbewusst zu seiner Jacke gleitet, die hinter ihm über der Stuhllehne hängt. „Ich habe… Oh nein, was ist denn jetzt los?“
Lotta stutzt, folgt seinem Blick und sieht hinter sich am Eingang des Restaurants den Mann mit Hut und Mantel, der sich von einem Tisch vorne am Fenster erhoben und im Hinausgehen gezögert hat und nun auf ihren Tisch zusteuert. Ohne auf die irritierten Blicke ringsum zu achten, zieht er sich einen freien Stuhl heran und lässt sich dicht neben Lotta nieder.
„Hören Sie“, flüstert er auf Englisch, bevor Lotta protestieren oder auch nur Luft zum Fragen holen kann, während Moritz unter dem Blick des Kommissars noch dunklere Augen bekommt als zuvor. „Es tut mir leid tut, Ihren Freund verdächtigt zu haben. Immerhin geht es um die Elster, es ist ihr Totengesang. Es ist sehr wichtig, dass Sie die Taube besuchen, bitte, Sie müssen...“
„Ich habe keine Ahnung, wovon…“, beginnt Lotta verdutzt und weicht zurück, als einer der Kellner herankommt und den Mann in Hut und Mantel freundlich fragt, ob er etwas zu trinken haben möchte.
„Sie kommen aus Hamburg, ja?“ fragt der Kommissar leise, ohne sich um den ratlosen Kellner oder den zunehmen düsteren Blick von Moritz zu kümmern. „Was wissen Sie über den Einbruch in die Kunsthalle?“
„Äh“, macht Lotta und sieht Moritz lautlos mit den Zähnen knirschen. „Ist nicht mein Ressort, ich bin beim Morddezernat.“
„Waren Sie schon im Orsay?“ fragt der Kommissar mit einem Blick auf die Uhr, als ob Lotta gar nichts gesagt und Moritz keine sturmgrauen Augen bekommen hätte. „Falls Sie noch nicht da gewesen sind, gehen Sie unbedingt hin. Einen schönen Abend.“
Damit steht er auf und verschwindet schnellen Schrittes hinaus in den Abend. Lotta starrt ihm einen Moment lang verwundert nach, bevor sie sich darauf besinnt, dass sie nicht allein ist. Die Miene von Moritz ist verschlossen, hart und irgendwie eisig, während seine Hand erneut unbewusst die linke Seite seiner Jacke berührt. Dann schiebt er abrupt seinen Stuhl zurück, steht mit einem „ich gehe kurz Händewaschen“ auf und lässt Lotta verwundert zurück.
„Darf es noch etwas sein?“ fragt der Kellner, der den dritten Stuhl zurückstellt und Lotta mit unverhohlener Neugier und Besorgnis mustert.
„Nur die Rechnung bitte“, antwortet Lotta automatisch und pickt die restlichen gerösteten Pinienkerne von ihrem leeren Teller, während sie sich immer noch über den seltsamen Auftritt von Kommissar Frossard wundert. Er hat zwar zu ihr gesprochen; aber warum hat er dabei die ganze Zeit aufmerksam Moritz und dessen Reaktion beobachtet?
Lotta zieht ihr Smartphone hervor und notiert sich – für den Fall, dass Frossard nicht nur einen Anfall von Wahnsinn gehabt hat – in einer Notizen-App seine Worte, die für sie überhaupt keinen Sinn machen.
Da Moritz noch nicht zurück ist, als der Kellner die Rechnung bringt, greift Lotta nach der Jacke, die über dem leeren Stuhl von Moritz hängt. In der Innentasche findet sie wie erwartet sein Portemonnaie, in dem noch genug Bargeld ist. Als sie die Scheine abgezählt hat und den Geldbeutel zurückstecken will, fühlt sie in der Innentasche plötzlich noch etwas anderes.
Erstaunt zieht sie das kleine Etwas hervor und sieht im Licht der beiden Kerzen auf dem Tisch ein kleines dunkelblaues Samtkästchen. Ihr Herz stolpert, als ihr bewusst wird, was darin sein muss.
Rasch wirft sie einen Blick zum Durchgang, wo es zu den Toiletten geht. Moritz ist nicht zu sehen. Auch der Kellner und die anderen Gäste beachten sie nicht, als sie vorsichtig das Schmuckkästchen öffnet und der Kerzenschein den Stein auf dem Ring darin aufblitzen lässt. Die Zeit verlangsamt sich. Jedenfalls kommt es Lotta so vor, als sie die Facetten des fein geschliffenen Brillanten bewundert. Prinzessinnenschliff, bestimmt ein Karat, lupenrein mit einem Stich ins Blaue. Oder kommt das von den Lampen des Restaurants?
Mit wild pochendem Herzen und geröteten Wangen schließt sie das Kästchen und schiebt es zurück in die Innentasche unter das Portemonnaie, bevor sie sich heftig atmend in ihrem Stuhl zurücklehnt und das Gesehene zu begreifen versucht. Es dauert einen Moment, bis ihr vollends bewusst wird, was Moritz vorhat. Nun versteht sie seine Anspannung und spürt ein heftiges Ziehen in der Brust, als sie plötzlich eine Vision von sich in einem weißen Kleid und Moritz im eleganten Cut hat.
Schnell greift sie nach ihrem Wasserglas und versucht ihren Puls zu beruhigen, um sich nicht zu verraten. Als Moritz zurückkehrt, ernst und mit verschlossener Miene zu dunkelgrau durchzogenen meeresgrünen Augen, blickt Lotta ihm erwartungsvoll entgegen. Er wirft jedoch nur einen Blick auf die Geldscheine, die der Kellner nun mit der Rechnung zusammen abholt, und nickt.
„Okay, gehen wir“, hört Lotta Moritz leise sagen.
Er klingt angespannt, scheint sich aber um Ruhe zu bemühen und gerade noch rechtzeitig auf seine guten Manieren zu besinnen, als er ihr in die Jacke hilft. Im Hinausgehen öffnet er ihr die Tür, versäumt es aber, ihr seinen Arm zu reichen.
Lotta fasst schließlich seine Hand und zieht ihn unter sternenklarem Himmel zu sich heran, als sie die Seine erreicht haben. Er zögert kurz, erwidert dann aber ihren Kuss. Sie spürt zufrieden, wie sein Körper auf sie reagiert und seine Küsse fordernder werden. Ihrem Vorschlag, sich mit der Rückkehr ins Hotelzimmer zu beeilen, stimmt er stumm, aber mit einem breiten Grinsen zu.
*****
Es ging auf elf Uhr nachts zu, als Renard den Justizpalast erreichte. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, seine Beute in ihrem Versteck zu belassen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihm zuvorgekommen war. Nun aber war er beruhigt und frohen Mutes, dass alles glatt laufen würde. Er hatte die Beute und damit die Oberhand. Somit würde er sich nichts gefallen lassen, vor allem nicht, wenn sich bewahrheitete, was er seit einiger Zeit befürchtete.
Niemand hatte das Recht dazu, ihn so zu demütigen, wie es ‚La Pie‘ getan hatte. Er hatte die Herausforderung angenommen, um seine Qualität zu beweisen. Und wofür? Tief in ihm nagte der Zweifel, dass es wirklich eine so gute Idee gewesen war, sich darauf einzulassen. Aber wenn man ihm zugestand, dass er nun wahrhaftig der größte Meisterdieb aller Zeiten war – größer und besser noch als ‚La Pie‘ und ‚Le Filou‘ zusammen – so war die Demütigung vergessen und sein Ruhm komplett, unsterblich.
Renards Herz beschleunigte sich vor freudiger Erwartung, denn es konnte nur einen Ausgang geben: Er hatte alle ihm gestellten Aufgaben erledigt, clever und so effizient, dass ihm niemand auf die Schliche kommen würde, selbst wenn sie hier und da einen Hinweis fanden. Aber er war nicht umsonst der Beste; und er war sicher, dass man dies nun endlich anerkennen würde.
Raschen Schrittes lief er den Quai de la Corse entlang, der ab der Pont d’Arcole in den Quai aux Fleurs überging, und sah hinter der nächsten Biegung bereits die kleine Brücke Saint-Louis auftauchen, die von der Île de la Cité zur Île Saint-Louis hinüberführte.
Renard duckte sich in den Schatten der Mauer an der Wasserseite und schlich langsam näher; denn dort, wo die Straße am Klostergarten von Notre Dame auf den Quai stieß, stand jemand und rauchte eine Zigarette.
Es war ein Mann, klein und um die Mitte leicht rundlich, der in Mantel und Hut am Geländer der Brücke lehnte und auf jemand zu warten schien. Es konnte sich um denselben Mann handeln, der ihm bereits heute Morgen aufgefallen war.
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