Doch wie oft sie auch einen verstohlenen Blick über die Schulter wirft, sie sieht weder den Polizisten in Zivil noch irgendjemand anderen, der sich für Moritz und sie zu interessieren scheint. Die anderen Passanten eilen ebenso wie sie selbst mit gesenkten Köpfen unter Regenschirmen oder in Regenmänteln ihrer Wege; nur ein Mann, ein typischer aber unscheinbarer älterer Franzose in Hut und Mantel, fällt ihr auf. Ob es derselbe Mann ist, der Moritz verhaften wollte?
„Warte mal“, sagt Lotta leise, als sie an einer kleinen Kirche vorbeigehen, in der gerade ein junger Student mit rotbraunem kurzem Haar verschwindet.
Lotta blickt erneut über die Schulter zurück und sieht den Mann in Mantel und Hut näherkommen. Sie schiebt Moritz voran bis zur nächsten Straßenecke, wo der Glockenturm der einstigen Benediktinerabtei Saint-Germain des Près vor ihnen aufragt.
„Geh weiter“, flüstert Lotta, „rüber zum Eingang, ich komme gleich nach.“
Moritz mustert sie überrascht, als Lotta sich in einen Hauseingang duckt. Er ist jedoch erfahren genug, nicht zu widersprechen und ihrer Anweisung zu folgen. Lotta wartet, bis er die Straße überquert und die Kirche erreicht hat. Vor dem Turm bleibt er im Schutz eines Vordachs stehen und zückt sein Smartphone.
„ Da kommt ein Mann “, liest Lotta eine geschützte Kurznachricht von ihm auf ihrem Smartphone. „ 10m … 5m “
„ Bon jour “, sagt Lotta mit fester Stimme, als sie mit gezücktem Dienstausweis in den Weg des Verfolgers tritt. „Was können wir für Sie tun?“
Der Franzose bleibt wie angewurzelt stehen und starrt auf ihren Ausweis. Dann schiebt er Lotta wortlos in den Hauseingang und beginnt leise und auf Englisch zu sprechen. Lotta staunt Bauklötze, schüttelt dann aber vehement den Kopf.
„Nein“, sagt sie bestimmt. „Für Moritz lege ich meine Hand ins Feuer. Er hat in den letzten zweiundsiebzig Stunden garantiert nichts gestohlen.“
*****
Saint-Claire, 19. Oktober 1942
Herr, der Du groß bist und gut,
heute bitte ich Dich nicht für Frankreich, sondern für meinen Bruder. Ich bitte Dich auch für seine Freunde, vor allem für den armen André. Und für Marie. Bitte lass nicht zu, dass die Befürchtung von André sich bewahrheitet und Marie dasselbe Schicksal ereilt hat wie Gabrielle und Amélie.
Mein Bruder ist heute – wider unseren Rat – zum alten François ins Château gegangen und hat dort nach Marie gefragt. Er kam zurück, so weiß im Gesicht, dass ich schon das Schlimmste befürchtete. Da er nichts sagte, steigerte er unser aller Furcht, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und ihm direkt fragte. Er wich mir aus, wohl aus Sorge, seine Beherrschung zu verlieren. Ich sah ihn weinen und konnte ihn nicht trösten, da er sich von uns zurückzog. Wir blieben allein zurück, betend und bangend, und so ist es immer noch, Herr. Oh, gib uns die Kraft, diese schweren Tage zu überstehen!
Wir wissen nicht, was Marie geschehen ist. Aber es ist wahrscheinlich, dass Jules und sein Bruder Claude etwas damit zu tun haben. Ich hoffe für sie, dass sie Reue empfinden und zurück zu Dir finden, Herr.
Mein Bruder und seine Freunde verdächtigen sie und außerdem auch diesen unangenehmen Menschen in seiner schwarzen Uniform und den stets blank polierten schwarzen Stiefeln.
Er macht mir Angst, dieser Mann. Er hat mich so seltsam angesehen, als ich heute zu meinen Schützlingen gegangen bin. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen, aber ich musste doch hingehen zu ihr, der armen Sabine, und ihr Deinen Trost bringen, Herr. Du weißt, es war im vergangenen Jahr bereits die zweite Fehlgeburt für sie, die Arme.
Ich weiß, Herr, dass Du Deine Gründe hast, aber warum quälst Du sie so sehr? Warum erlaubst Du es, dass jener unheimliche Mann sich so unverschämt Freiheiten herausnimmt und nicht nur Sabine, sondern auch das Andenken des tapferen Henri beschämt?
Gib mir die Kraft, Herr, stark zu bleiben, um diese Deine Prüfungen zu bestehen. Hilf mir, meinen Schützlingen weiterhin eine Stütze zu sein und für Sabine und meinen Bruder da zu sein. Um mehr bitte ich Dich heute nicht.
Gelobt sei Jesus Christ, Dein Sohn.
Gelobt seiest Du, oh Herr, heute und in Ewigkeit.
Amen.
*****
Moritz staunt nicht schlecht. Eben noch ist Lotta auf der anderen Straßenseite dem Mann in Hut und Mantel drohend in den Weg getreten; nun kommen die beiden in ein angeregtes Gespräch vertieft in trauter Eintracht zu ihm herüber zum Eingang der Kirche Saint-Germain des Près.
„Émile Frossard“, stellt sich der Franzose vor und reicht Moritz die Hand, „ je suis désolé, Monsieur … Ah, pardon, en Anglaise pour vous .“
„Es tut mir leid“, wiederholt er auf Englisch. „Ich habe mich geirrt heute früh. Es war eine Verwechslung. Aber vielleicht können Sie mir trotzdem weiterhelfen.“
Moritz blickt irritiert zu Lotta, die bei diesen Worten ebenfalls die Stirn runzelt.
„ Monsieur le commissaire “, sagt sie dann mit strenger Stimme, „ein bisschen mehr müssen Sie uns schon sagen. Was ist das denn für ein Raub, von dem Sie gesprochen haben?“
Der Franzose zögert einen Moment und wirft einen Blick auf sein Mobiltelefon, bevor er leise fragt, ob sie von dem Diebstahl des Monets gehört haben. Lotta wendet ein, dass sich der Raub in den USA ereignet hat.
„Oder“, fügt sie mit einem schlauen Zug um den Mundwinkel hinzu, „sprechen Sie vom Einbruch in die National Gallery in London?“
„Davon haben Sie also auch gehört…“, murmelt der Franzose für sich. „Wissen Sie“, fügt er dann lauter hinzu, „am besten vergessen Sie den ganzen Vorfall. Genießen Sie Ihren Urlaub.“
Damit hält er ihnen die Eingangstür zur Kirche auf. Moritz sieht, wie Lotta sehr nachdenklich dasteht und den Kommissar aufmerksam ansieht. Dieser reagiert nicht darauf, sondern wirft nur einen erneuten Blick auf sein Telefon. Ohne ein weiteres Wort wendet er sich abrupt um, tippt sich zum Gruß an den Hutrand und geht raschen Schrittes in Richtung der nächsten Metro-Station davon.
„Was sollte das denn?“ fragt Moritz verwundert. „Raub? Kunstdiebstahl? Hast du das verstanden?“
„Nun ja“, antwortet Lotta zögerlich, „er scheint zu denken, dass es sich nicht nur um eine Diebstahl-Serie handelt, sondern dass der Dieb als nächstes hier in Paris zuschlagen wird. Monets gibt es hier ja genug.“
„Und ich soll der Dieb sein?“
„Nein, natürlich nicht. Das war in der Tat eine Verwechslung. Dieser Typ, der im Café neben uns gesessen hat, der hatte den Micro-Sender an der Jacke, der im Vorbeigehen an deine Jacke gekommen sein muss. Der Kommissar sagte, dass er den Typ schon seit gestern Abend beschattet; der Verfolgte hat zweimal sein Outfit geändert und mittlerweile bestimmt noch ein drittes Mal.“
„Darf er eine verdächtigte Person so hartnäckig verfolgen?“ fragt Moritz leicht besorgt. „Ich meine, ist das erlaubt?“
„Mit begründetem Anfangsverdacht“, nickt Lotta. „Aber dazu hat er mir nichts sagen wollen. Wenn ich nicht Urlaub hätte, dann würde ich auf der Stelle zum Kommissariat gehen und mich schlau machen. Vorweg werde ich mich aber in deinem Namen beschweren über diese ungebührliche Behandlung…“
„Lieb von dir“, grinst Moritz. „Aber komm, Urlaub ist Sightseeing, das ist Pflicht. Diese Kirche noch und dann die Macarons, ich habe wirklich Hunger.“
„Vielleicht“, erwidert Lotta mit einem Zwinkern über die Schulter, „sollten wir lieber ein frühes Abendessen einnehmen und uns dann ins Hotel… Moment mal. Ist er das nicht?“
Moritz fährt herum und blickt über die Straße, wo soeben ein schlanker Mann aufgetaucht ist und hinüber zum Boulevard Saint-Germain geht. Mit grimmiger Miene hält Moritz Lotta am Arm fest; denn sie ist drauf und dran, sofort hinterher zu gehen. Sie kann es einfach nicht lassen. Und da sie nicht ahnt, welche Überraschung er für sie mit sich herumträgt, ist es nun an ihm sie zu erinnern.
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