„Urlaub, Frau Strandt. Wissen Sie, was das bedeutet?“
„Hm?“ macht Lotta überrascht.
„Du bist hier im Urlaub, Lotta. Außerdem ist Raub nicht dein Ressort. Lass die Franzmänner ihre Diebe alleine jagen. Ich wünsche mir jetzt nichts anderes als mit dir diese Kirche und die Sulpice zu besuchen, bevor wir mit einer riesigen Menge Macarons ein Picknick im Jardin du Luxembourg machen.“
„Du hast ja recht“, antwortet sie und betritt die Kirche. „Aber schnell, ich habe auch Hunger. Und nicht nur auf Macarons…“
Grinsend gibt er ihr einen sanften Klaps auf den gut trainierten Po und schiebt sie ins Halbdunkel des Kirchenschiffs mit den hoch gewölbten Rundbögen. Dort angekommen ist er für einen Moment versucht, seine Überraschung gleich hier und jetzt vor ihr auszupacken. Stattdessen zieht er sie jedoch in seine Arme und küsst sie, diesmal unbeobachtet von neugierigen Augen, und genießt die Nähe und Zärtlichkeiten, auch wenn ihn das kleine Schmuckkästchen dabei hin und wieder etwas unsanft auf der Brust drückt.
*****
Der Wind flaute ab, als Pierre das kleine Boot in die geschützte Bucht steuerte. Er wusste kaum, wie er zurück zur Kanalküste gekommen war. Sein Herz war stehen geblieben, zusammen mit der Zeit, als er die Nachricht erhalten hatte. Er war verraten, man hatte ihn getäuscht und aufs Schändlichste betrogen.
Der Schmerz hatte ihm im ersten Moment die Luft zum Atmen genommen und ihm beinah das Bewusstsein geraubt. Aber dann hatte er wie glühendes Feuer von seinem Körper Besitz ergriffen und ihn für eine gefühlte Ewigkeit schreiend unter einer Eiche zu Boden gestreckt. Einzig ein Tier, eine schwarzweiße Elster, hatte ihm von einem Ast aus in seiner Trauer Gesellschaft geleistet.
Er wusste nicht, wie lange er unter dem Baum gelegen und geschrien hatte. Es war, als ob sein Herz nicht nur stillgestanden hatte, sondern überhaupt nicht mehr in seiner Brust war. Doch dann hatte er gespürt, wie es in wildem Staccato sehr schmerzhaft wieder zum Leben erwacht war. Das Schreien hatte aufgehört, dafür war er losgestolpert, blindlings geradeaus, bis er vom Waldrand aus den Hügel vor sich aufragen sah – sein Dorf, Coteau du Soleil, das verratene, stand im Schatten schwarzer Wolken. Es war in Gefahr – und er allein hatte es in der Hand, die Gefahr noch im letzten Moment abzuwenden.
Aber musste er sich an die Vereinbarung halten, jetzt, nachdem er so schändlich getäuscht worden war? Er hatte alles getan, doch es hatte nichts genützt. Für Marie war er auf den elenden Handel eingegangen, nur für sie. Umsonst, alles umsonst. Er hatte loslaufen wollen, dorthin, zu Marie; so nah wie jetzt würde er ihr nie wieder sein.
Stattdessen hatte er fliehen müssen und war er wie in Trance zur Küste zurückgelaufen, durch Wälder und Felder, über Stock und Stein und zum Schluss den steilen Pfad in den Klippen hinunter geklettert. Dass er dabei die ganze Zeit über mit den Tränen gekämpft hatte, war nicht besonders hilfreich gewesen.
Pierre mühte sich mit dem Festmachknoten ab, aber der doppelte Palstek wollte ihm zum ersten Mal in seinem Leben nicht richtig gelingen. Zum Glück kam ihm André rechtzeitig zur Hilfe und legte das Boot fest, bevor sie sich zusammen mit den zwei Beuteln neuer Lebensmittel abmühten.
„ Was ist los?“ fragte André besorgt, sobald sie im Schutz der Höhle am Feuer saßen und sich Baguette mit luftgetrocknetem Schinken schmecken ließen. „Ist etwas mit Jean-Michel? Haben sie ihn geschnappt?“
„ Nein“, antwortete Pierre, „er ist in Brest angekommen und wird dort seinen Kontaktmann treffen. Er wird uns Nachricht schicken, sobald es wieder losgeht. Es dauert nicht mehr lange“, er wischte sich die Augen, „denn jetzt haben sie es auf die Spitze getrieben.“
„ Sag schon, was ist los?“
„ Es waren Jules und Claude“, antwortete Pierre leise und schluckte schwer. „Sie haben Marie...“
„ Gefangen? Dann müssen wir sie befreien.“
„ Dafür… dafür ist es schon zu spät. Marie… sie ist tot.“
„ Was?!“
„ Eloise hat mir mit den Lebensmitteln auch eine kurze Nachricht geschickt. Es ist wahr, sie haben Marie… nun, sie haben sie getötet, weil sie uns geschützt hat. Verstehst du? Wir sind… nein, ich bin schuld, dass das passiert ist.“
„ Nicht doch, du bist nicht schuld und wir sind es auch nicht. Es sind die Niederträchtigen, die unser Land verraten! Es sind die Tyrannen, die uns in Knechtschaft halten wollen, verstehst du?“
„‚Zu den Waffen, Bürger ‘“, murmelte Pierre und nickte. „‚ Formt eure Truppen, marschieren wir, marschieren wir! ‘ Ja, du hast recht, sie sind die Schuldigen.“
„ Und eines Tages“, ergänzte André, „werden ihnen ihre verruchten Pläne bis auf den allerletzten Sous heimgezahlt.“
Pierre nickte und kaute nachdenklich am Rest seines Baguettes. Ihm war, als ob er wieder unter dem Baum lag und sein Leid herausschrie, während die Elster über ihm leise mit dem Schnabel klapperte.
Um der Elster willen war es geschehen. Er hatte seinen besten Freund belogen und sein Schicksal in die Hände des Teufels gelegt. Und wofür? Marie war tot, längst tot, als er auf den Handel eingegangen war, um sie zu retten. Er hatte alles gegeben – vergebens. Sein Schmerz war in diesem Augenblick noch zu frisch und tief; aber wenn er eines Tages abzuebben begann und er wieder klar denken konnte, dann würde er seine Rache planen. Und seine Rache würde furchtbar sein und sie alle vernichten, all die Niederträchtigen, die es gewagt hatten, ihn arglistig zu täuschen und sich an Marie zu vergreifen.
*****
Der Regen wird stärker, als sie den Eingang an der Rue de Vaugirard erreichen. Mit großen Sprüngen eilt Lotta neben Moritz her zum Musée du Luxembourg, wo die Warteschlange glücklicherweise nicht besonders lang ist. Als draußen die Sintflut niedergeht, wandern Lotta und Moritz durch den Palais de Tokyo, wo eine extensive Ausstellung der Werke Jean-Honoré Fragonards zum Thema Liebe, Verführung und Intrige zu bewundern ist.
„Plötzlich verstehe ich Gefährliche Liebschaften “, hört Lotta Moritz murmeln, als sie vor dem Gestohlenen Kuss , einer Leihgabe des Metropolitan Museum of Art, stehen. „Und außerdem…“, er tritt hinter sie und legt ihr sanft seine Arme um die schmalen Hüften, „bringt mich das auf eine gute Idee…“
„Unersättlich“, grinst Lotta und erwidert seinen Kuss, der drei vorbeigehende Studentinnen zu wehmütigem Gekicher veranlasst. „Komm, heben wir uns den Rest für später auf…“
„Okay“, antwortet Moritz, „dann darf ich die verehrte Dame zuvor noch nach nebenan ins Restaurant führen, ja?“
„Aber sehr gern, mein Herr“, kichert Lotta und nimmt seinen dargebotenen Arm. „Wäre ja nicht so, dass wir gerade ein paar kalorienreiche Süßigkeiten für mehr als zehn Euro verputzt haben. Aber wer zählt schon…“
„Unbezahlbar“, antwortet Moritz und zaubert von irgendwoher den letzten der acht Macarons aus dem Geschäft in der Rue Bonaparte. „Doch für dich ist mir nichts zu teuer, meine Süße.“
Bevor Lotta ernsthaft protestieren kann, schiebt er ihr das nach Passionsfrucht schmeckende Gebäck in den Mund und drückt ihr einen Kuss auf den Mundwinkel. Als sie wenig später im Restaurant sitzen, ringt Lotta sich zu einem Salat mit gegrillten Crevetten und gerösteten Pinienkernen durch, während Moritz sich tapfer mit einem Lammsteak auseinandersetzt.
Lotta muss sich ein Schmunzeln verkneifen, als er schließlich das Besteck streckt und sich mit fest zusammen gepressten Lippen auf seinem Stuhl zurücklehnt. Sie ist sehr bemüht, sich nicht von der Anspannung anstecken zu lassen, die von ihm ausgeht. Sie weiß nicht, was es ist, aber sie spürt deutlich, dass er unruhig ist.
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