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Die digitale Anzeige auf seinem Smartphone zeigte drei Minuten nach elf Uhr an. Renard überblickte den Platz vor dem Centre Pompidou, wo es wie erwartet von Schulklassen nur so wimmelte. Den Verfolger hatte er glücklicherweise noch vor dem Betreten der Metro-Station abschütteln können, sodass er nun wie geplant ganz für sich war und warten konnte.
Der Regen war schwächer geworden, sodass die Regenschirme zugeklappt und bei den hier und da durch die Wolken blitzenden Sonnenstrahlen riesige dunkle Brillen aufgesetzt wurden.
Zwischen all den Teenies und ihren Aufsichtspersonen würde er seinen Auftraggeber – oder dessen Kontaktmann – leicht ausmachen können. Doch so sehr Renard auch unauffällig Ausschau hielt, er sah niemanden, der sich für ihn und sein Erkennungszeichen – den großformatigen Monet-Band – zu interessieren schien. Die Schüler genossen die häufiger werdenden Sonnenstrahlen, während sie umgeben von den bunten modernen Skulpturen in den Wasserspielen vor dem Centre Pompidou ihr Mittagessen einnahmen.
Fünf nach elf Uhr, pünktlich auf die Sekunde, kam ein Mann über den Platz. Er würdigte Renard jedoch keines Blickes, sondern ging auf eine Gruppe Schüler zu, denen er Eintrittskarten für das moderne Kunstmuseum aushändigte. Zwei Minuten später verschwand die Schülergruppe samt dem Mann ins Gebäude.
Es vergingen weitere Minuten, in denen Schülergruppen und einige Touristen kamen und gingen. Keiner von ihnen warf auch nur einen Blick auf Renard und das schwere große Buch.
Als die Uhr sechs Minuten vor halb zwölf zeigte, wurde Renard unruhig. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken, sondern gab sich den Anschein, nur einen neuen Platz zum Sitzen zu suchen.
Nach kurzem Überlegen, klemmte er sich das Buch unter den Arm und erhob sich von der zweituntersten Treppenstufe vor dem Strawinsky-Brunnen. Scheinbar interessiert wanderte er um die Wasserspiele mit all den skurrilen Figuren von Niki de Saint Phalle und den wild anmutenden Metallkonstruktionen von Tinguely herum und betrachtete sie gelangweilt.
‚ Sicher ist nur der Tod‘, hatte der letzte Satz der Nachricht gelautet. Und so sah er sich besonders die Skulptur des grinsenden Totenkopfes auf stahlschwarzem Körper genauer an, konnte aber nichts Besonderes erkennen.
Er nahm genau an der Stelle auf dem Brunnenrand Platz, von der aus er dem Totenschädel in seine blau ausgemalten leeren Augenhöhlen blicken konnte, und legte den Monet-Band deutlich sichtbar auf seinen Schoß. Doch noch immer nahm er niemanden wahr, der sich für ihn zu interessieren schien.
Was war bloß los? Wollte sein Auftraggeber, den er nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte, die Beute gar nicht haben? Nicht, dass er sie dabei gehabt hätte; man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Er war ein Meisterdieb – der Meisterdieb – und er gedachte es noch lange, lange Zeit zu bleiben.
Dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man ihn bei diesem Auftrag nicht nur herausgefordert, sondern auch gelinkt hatte – ihn, den ‚Fuchs‘ unter den Meisterdieben. Warum war niemand gekommen?
Nachdenklich wanderte sein Blick über den Brunnen, die Skulpturen mit ihren unförmigen bunten Konturen und das klare Wasser, das über sie oder aus ihnen heraus in das große Brunnenbassin floss. Plötzlich stutzte er.
Was war das? Direkt neben ihm, im Wasser und auf dem Grund des Brunnens, lag in fünfunddreißig Zentimetern Tiefe etwas, das dort nicht hingehörte. Es war ein Stück Papier oder Pappe, weiß, fünf Zentimeter lang und vielleicht drei hoch, das von dort unten zu ihm heraufschaute.
Er wunderte sich, dass sich das Material nicht im Wasser auflöste, aber mehr noch erstaunte es ihn, was auf dem weißen Untergrund stand: ‚La Pie‘. Nicht schon wieder; aber andererseits: hatte er etwas anderes erwarten können?
Schnell streckte er den Arm hinunter und holte die Visitenkarte – denn nichts anderes war es – herauf. Sie war in wasserfeste Klebefolie eingeschlagen und hatte an der Unterseite zwei Metallgewichte, die sie unten gehalten hatten. Aber es war der Text, der auf der Unterseite geschrieben stand, der Renard wirklich in Rage brachte: ‚Pont Saint-Louis, 23:00‘.
Was sollte diese Schnitzeljagd? Warum schickte man ihn von einem Ort zum nächsten? Womöglich war es nur eine Ablenkung. Ob sein Auftraggeber längst das Versteck gefunden und die Beute geborgen hatte? Er beschloss, sich auf den Weg zu machen und nachzusehen.
Er musste wissen, woran er war, bevor er in der Nacht den Treffpunkt auf der kleinen Brücke zwischen Île Saint-Louis und Île de la Cité aufsuchte. Egal, was sein Auftraggeber vorhatte – er, Renard, musste es sein, der das Ass im Ärmel hatte. Das war er sich schuldig. Er stand auf und ging raschen Schrittes davon.
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Es ist kalt in den Gewölben, in denen viele Größen Frankreichs zur letzten Ruhe gebettet worden sind. Lotta fröstelt, als ihr Blick über die Steinplatten mit den berühmten Namen gleitet, die an den Sarkophagen der Grabkammern angebracht sind.
Sie geht vorbei an bedeutenden Franzosen wie Jean-Jacques Rousseau, Victor Hugo, Alexandre Dumas, Émile Zola und – als einzige Frau unter all den großen französischen Männern – der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie neben ihrem Mann Pierre, bevor sie nach dem Rundgang durch die Krypta der ehemaligen Abteikirche schließlich bei der Statue Voltaires ankommt.
„Genug gegruselt?“ flüstert Moritz ihr ins Ort und legt ihr seinen starken Arm sanft um die Schultern, wobei seine Hand ihre Brust streift. „Komm, mir ist kalt. Außerdem bekomme ich langsam Appetit auf diese kleinen Sünden…“
„Nicht hier“, antwortet Lotta kichernd. „Sonst wirst du wirklich verhaftet.“
„Was? Ach so, nein. Ich meinte die Macarons.“
„Oh, natürlich, Verzeihung. Gut, gehen wir.“
Moritz reicht ihr seinen Arm und führt Lotta die Treppen hinauf zurück in die obere Halle, wo sie noch einmal am foucaultschen Pendel stehenbleiben und in andächtigem Schweigen den Nachweis der Erdrotation betrachten. Ein leichtes Magenknurren veranlasst sie schließlich, sich dem Ausgang zuzuwenden.
„Sollen wir“, fragt Lotta, als sie hinaus in den langsam aufklarenden Tag treten, „auf dem Weg zum Jardin du Luxembourg noch die Kirche Saint-Germain des Près ansehen? Da liegt der Philosoph begraben, der hier in der Runde fehlte: René Descartes.“
„Descartes“, murmelt Moritz. „Das ist der mit dem Denken, oder?“
„ Cogito ergo sum “, kramt Lotta ihre Lateinkenntnisse aus Schulzeiten heraus. „Das bedeutet: ‚Ich denke, also bin ich‘.“
„Ich denke“, wiederholt Moritz grinsend, „also bin ich… verliebt in dich.“
Direkt unter den ionischen Säulen am Eingang des im Stil eines griechischen Tempels erbauten Panthéons fühlt sich Lotta um die Taille gefasst und in eine filmreife Kuss-Szene versetzt. Moritz hält sie sicher, sodass sie unbesorgt ihren einen Fuß heben und sich ganz in seinen Arm und Kuss sinken lassen kann.
Ein anspornendes Pfeifen ertönt, dicht gefolgt von vielstimmigem Gelächter. Es ist eine Schulklasse bestehend aus mindestens fünfundzwanzig Teenies, die mit neidischen Blicken im Vorbeigehen zu ihnen herüber sehen.
„ Merci, mes enfants “, grinst Lotta und erntet dafür erneutes Kichern. „Komm, Moritz, genug angegeben. Lass uns weitergehen, bevor das hier wieder in eine Sintflut ausartet.“
Sie schlägt den Kragen ihrer Jacke hoch und hakt sich bei Moritz unter, der den Regenschirm zum Schutz vor dem leichten Sprühregen über sie beide hält, als sie die nassen Straßen voll großer Pfützen entlang eilen. Lotta hat dabei die ganze Zeit das seltsame Gefühl beobachtet zu werden.
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