1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Er hat dich nicht gesehen , sagte er sich. Doch, das hat er , dachte er gleich darauf. Was zum Dogan ist hier los?
Wenn er Aki gesehen hatte, würden sie kommen. Ihm blieben nur ein oder zwei Minuten, bis sie hier wären. Er tat das Einzige, was ihm einfiel. Aki stürmte die Treppen hinauf, immer weiter. Er versuchte, in jedem Stockwerk möglichst von dem Fenster wegzubleiben, das zur Straße führte. Seine Knie zitterten aber sein Kopf war klar wie schon lange nicht mehr. Das Blut des Wegemeisters in ihm, von dem er wenig wusste, trieb sein Handeln voran. Im letzten Stockwerk führte eine Tür auf den Dachboden. Aki riss sie auf. Es war dunkel, heiß und stank nach Taubenkot. Auf der rechten Seite sah Aki einige alte Möbel stehen. Er stolperte darauf zu und ließ sich hinter einer Kommode mit heraushängenden Schubladen fallen. Eng drückte er den Rücken gegen das Holz, zog die Beine an und umklammerte sie mit den Armen. Dort wartete er, erschrocken und angespannt. Was hast du gemacht, Raik ? dachte Aki wütend, was hast du gemacht? Er wartete stundenlang. Vor Sonnenaufgang schlief er erschöpft ein.
Frida blutete. Ein dünner roter Faden rann ihr rechtes Schienbein herunter und ihr Knie wurde langsam blau. Die Knöchel an ihren Händen waren aufgerissen und sogar die Ellenbogen. Ihre Schulter schmerzte höllisch. Auf ihren Handflächen zeichneten sich als kleine rote Punkte die Spuren des Dornengebüschs ab, in das sie im Fallen gegriffen hatte. Doch Frida hatte trotz aller Schmerzen nichts unversucht gelassen, diese verdammte Tür aufzubrechen. Und sie hatte nicht aufgegeben. Neben der Tür, unter der elektrischen Wandlampe, stand ein Schirmständer, den Frida schon verzweifelt gegen die wuchtige Eschenholztür gerammt hatte. Immer schlug Frida mit der flachen Hand dagegen, doch sie hoffte nicht mehr, die Tür zu bezwingen. Das, so hatte sie inzwischen mitbekommen, war nicht möglich. Ihre Kehle war heiser vom Schreien und der Schock lähmte ihre Gedanken. Frida war auf dem Dachboden des Kinematographen Ronyane eingesperrt. Besser gesagt, auf Canans Dachboden. Frida kochte vor Wut. Der Alte, der sie die Treppen hochgetragen hatte, war mit Sicherheit von tiefen Kratzern und blauen Flecken übersäht. Doch dieser alte, sehnige Mann hatte weitaus mehr Kraft in seinen Armen gehabt als Frida für möglich gehalten hatte. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, verblüffte sie das nicht mehr. Der Alte war schließlich der, der die Kurbel am Filmprojektor drehte. Beinahe zwölf Stunden am Tag, so gut wie ohne Pause. Frida war wie paralysiert. Es war ein Albtraum. Der Alte hatte sie hier hineingetrieben, die Tür zugeschlagen und von außen den Schlüssel umgedreht. Zusätzlich hatte er einen Stuhl oder einen Besen unter die Klinke geklemmt, sie war sich da nicht sicher. Es gab wenige Dinge, die Frida so hasste, wie eingesperrt zu sein und nicht weg zu können.
Jetzt ließ sie von der Tür ab und tigerte in einem Kreis an Schränken und Requisiten vorbei. Vor ein paar Stunden hätte sie alles dafür gegeben, hier herumstöbern zu können. Canan, deren Vater als Wandertheaterleiter nach Litho gekommen war, hatte genug Utensilien, um eigene Filme zu drehen - was sie manchmal auch taten. Die Schränke quollen über mit prächtigen Kleidern nord- und südländischer Tracht und Garderoben, die man für typisch kontinental hielt. Ein riesiger, weißverschnörkelter Vogelkäfig hing von der Decke, in dem ein ausgestopfter Papagei saß. Bänke, Tischchen und bunte Schirme standen in allen Variationen herum. Plastikblumen, ein altmodischer Kinderwagen, in dem eine Puppe lag und ein großer, auf Stöcken befestigter Pappdrache ruhten in einer Ecke. Und hinter einem gespannten schwarzen Leinentuch verborgen stand die Kamera. Sie war auf eine leere Seite des Dachbodens gerichtet. Die Wand dahinter war mit altmodischen Tapeten beklebt und die Köpfe von mindestens fünf elektrischen Stehlampen waren darauf gerichtet. An der Wand hing ein einzelner runder Spiegel.
Frida sah das alles nicht. Ihre Augen glitten stumpf darüber hinweg. Wie betäubt ging sie weiter im Kreis. Das Gehen beruhigte sie ein wenig. Sie konnte nicht nachdenken, alle Worte schienen weggeflogen zu sein. Nur Davids Gesicht tauchte manchmal klar auf. Sie brauchte einen Plan, eine Idee, wie sie hier abhauen konnte. Ihr fiel nichts ein. Wie eine Filmrolle liefen immer die gleichen Bilder und Fragen in ihrem Kopf ab. Warum habe ich David alleine gehen lassen? Wer hat ihn angegriffen? Ist er verletzt, lebt er? Woher kam der alte Mann? Wieso sperrt er mich hier ein? Wo ist Canan?
Da klingelte ein Telefon. Frida sprang erschrocken ein paar Schritte zurück. Auf einem kleinen Tischchen, links von der Tür, stand ein vergoldetes Telefon mit elfenbeinfarbenen Sprechmuscheln. Frida hatte es für ein weiteres Requisit gehalten. Erst jetzt sah sie das Kabel, das in einem kleinen Loch in der Wand verschwand. Einige Sekunden lang starrte Frida mit offenem Mund den Hörer an. Dann riss sie sich zusammen, rannte darauf zu, packte den Hörer und rief: „Hallo, bitte, Sie müssen mir helfen, ich wurde entführt und eingesperrt! Ich bin…“
„Das ist ein Haustelefon, Frida. Das funktioniert nur hier“, dröhnte die Stimme von Canan in ihrem Ohr.
Frida verschlug es kurz die Sprache. Canan? Dann sagte sie, so gefasst wie sie konnte: „Lass mich frei.“
Einige Sekunden war es still in der Leitung: „Nein.“
„Warum nicht?“
Fridas Stimme zitterte ein wenig. Bleib ruhig , dachte sie, dreh nicht durch…
„Weil ich dir helfen will.“
„Canan, was soll das? Was zum Dogan ist hier los? Was ist mit David?“
Wieder ein sekundenlanges Zögern am Hörer und dann:
„Vertrau mir einfach, Frida. Bitte.“
Fridas Stimme drang aus ihrer Kehle wie zerbrochenes Glas. „Sag mir…. verflucht, wieso sperrst du mich ein? Du bist meine Freundin, ich habe dir vertraut!“
„Jetzt etwa nicht?“
„Canan, WIESO sperrst DU mich hier ein?“
„Wie ich schon sagte. Ich will dir helfen.“
Der Schrecken, der ihr tief in den Knochen saß, veränderte sich. Begann hell und lichterloh zu brennen. Verzweiflung brach aus Frida wie Wasser aus einem Damm.
„DU HILFST MIR WIRKLICH UNGLAUBLICH! DANKE DASS DU MICH EINSPERRST, DAS HABE ICH WIRKLICH GEBRAUCHT!“
Fridas überanstrengte Stimmbänder gaben ein heiseres Krächzen von sich, dann schüttelte das Mädchen ein Hustenkrampf, bis ihre Augen tränten.
„Schon gut, hör mir bitte zu.“
„Hm!“, brummte Frida und schluckte.
„Sie suchen nach dir. Die Stadtwache. Und außerdem die Brut von Adam Rothaar.“
„W’rum?“, knurrte Frida.
„Weil sie glauben, dass du David angegriffen hast.“
Canan würgte Fridas Protest ab. „Ich weiß, dass du nichts gemacht hast! Ich habe den Alten hinter dir hergeschickt, war ja klar, dass es irgendwann Probleme gibt mit diesem Rothaarjungen in der Unterstadt. Er hat euch beobachtet aber im Park ist er nicht schnell genug hinter euch hergekommen. Da war David schon verschwunden. Und als du ihm nachgerannt bist, hat er dich gerade noch erwischt.“
„Der Alte“, echote Frida und dachte an den Kurbler mit den kräftigen Armen. „Aber woher hast ‘n das gewusst?“
„Dass du mit dem Rothaarjungen zu schaffen hast? Für wie blöd hältst du mich denn? Jedes Mal, wenn du dich mit ihm im Kino getroffen hast war mein Haus voll mit Rothaars Schergen und glaub mir, die Bande kenn ich!“
Frida brauchte einige Sekunden, um das Gesagte sacken zu lassen. „Davids Vater hat das gewusst? Er hat seine Leute hinter ihm hergeschickt? Aber David hat immer gesagt…“
Canan lachte. „Verflucht, das ist der Rothaar-Clan! Der alte Teufel Adam weiß genau, was seine Söhne treiben und wo und mit wem. Er weiß, wer du bist. Woher du kommst. Was du machst. Und jetzt sucht er nach dir! Frida, ihr seid vorgegangen wie die Kleinkinder. Das ist Litho, zum Dogan! Du bist zwar noch nicht alt aber du solltest inzwischen klüger sein!“
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