Es war für den Moment ungeschickt, aber nach seiner Auffassung dringend nötig. Manchmal war die Staatsgewalt ziemlich fies, was bedeutete, seine speziellen Freunde könnten mit der sofortigen Ausweisung vor der Tür stehen, damit ihnen keine Zeit zur Besinnung blieb.
Auch Norbert und Lisa erhoben sich hilflos. »Kommt rein«, sagte der Vater energisch, aber Julie war nicht auf den Kopf gefallen. »Es stimmt also! Habt ihr sie noch alle? Was wird denn aus mir. Wie soll ich dort mein Abitur machen? Anna-Sofie sagt, die lernen dort ganz andere Dinge … « Sie schnappte nach Luft und beugte sich gefährlich weit über die Brüstung, nur um zu sehen, wie die Eltern auf ihren Leichtsinn reagierten. Als der Vater sie hart bei den Hüften griff und energisch ins Zimmer bugsierte, wurde sie noch lauter: »In Deutsch und Geschichte zum Beispiel. Und die lernen da drüben auch nicht Russisch. Dort muss ich Englisch können, sonst… Ach Scheiße! Was denkt ihr euch dabei.«
Das alles hatten Lisa und Norbert lange erörtert, aber keinen anderen Entschluss fassen können. Jetzt denkt die Mutter: Anna-Sofie weiß das also. Woher denn? Sie schloss rasch die Balkontür. Zu Julie zischte sie dennoch nur verhalten: »Was wir uns dabei denken? Bist du nicht diejenige, die beständig nach den tollen Sachen aus dem Genex-Katalog schielt und unseren Briefen versteckte Hinweise an Elli unterschiebt. Du hast es gut, Tante Elli. Du kannst das tolle …Weißichnicht… kaufen, was ich mir so sehr wünsche . Oder, irre ich da vielleicht?«
»Ja, ich … na ja … aber nicht vor dem Abitur und überhaupt …«
»Überhaupt?« Lisa lief rot an vor Empörung. »Überhaupt!«, schrie auch sie jetzt ihr Kind an. »Was heißt denn: überhaupt? «
Julie schnappte nach Luft, ehe sie wütend mit den Füßen aufstampfte und in gleicher Weise zurückschrie: »Und dort finde ich auch nie mehr eine Freundin wie Anna…«, Im Handumdrehen stand sie im Flur, fischte nach ihren Schuhen und schlug Sekunden später die Wohnungstür hinter sich zu. Zurück blieben zwei verdutzte Eltern, die sich gegenseitig des größten Fehlers bezichtigten, den sie machen konnten. Nicht in der Sache an sich, darin gab es für Lisa kein Zurück. Aber ihre Ungeschicktheit gegenüber der Tochter.
Nach einigem Hin und Her, nach kurzen Schreien und langem Schweigen, nach Wegschauen und nur verstohlen nach dem Anderen schielen, waren sie sich nach Stunden wieder einig. Es war der erste Streit seit Jahren, der ihnen im Nachhinein so unsinnig erschien wie Schnee im Mai.
Inzwischen war es schon dunkel, als sie beide wussten, was zu tun war. Schwerfällig rafften sie sich auf und fuhren in die Stadt. Vermutlich saß Julie bei Anna-Sofie und deren Eltern und heulte sich die Seele aus dem Leib. Und wer weiß, was die Krafts bereits zu unternehmen beschlossen hatten? Diese Art Denunzierung brachte heutzutage Vorteile.
Tatsächlich war bei Familie Kraft noch Licht. Norbert war die Sache mit Julie nur peinlich, noch dazu, dass er sie womöglich den Leuten erklären müsste. Er beabsichtigte, so rasch wie möglich die Angelegenheit zu beenden, Julie zu schnappen und nach Hause zu fahren. Aber Horst Kraft, Annas Vater, bat sie trotz später Stunde lächelnd herein.
Die Wohnung der Krafts lag in einem Altbau unweit ihrer eigenen früheren Wohnung. Sie hatte einen ebenso düsteren Hausflur, wie der in ihrem alten Haus war und den er jeder Tag verflucht hatte. Die gebohnerten Stufen der verwinkelten Treppe ächzten, und Norbert dachte merkwürdig dankbar: Wie gut wir dagegen wohnen. Vom Treppenabsatz aus konnte man durch ein schmales Fenster in den schmutzig-verwinkelten Hinterhof blicken, der mit ein paar Wäschepfählen, den Mülltonnen und dem grauen Beton den besten Platz für einen gruseligen Krimi abgäbe.
Im zweiten Stock, der gefühlt viel höher lag als in einem Neubau, befand sich die Wohnung der Familie Kraft. Wenigstens deren Zimmer waren auf den ersten flüchtigen Blick geräumig; kaum hätte er das in dieser stickigen Enge für möglich gehalten. Nur die Höhe der Zimmer gefiel Norbert Fuchs gar nicht mehr. Damit könnte er sich nicht mehr wohlfühlen, außerdem musste man für wohlige Wärme im Winter auch bedeutend mehr Heizmaterial heranschaffen.
Horst Kraft führte die Eheleute sofort den Flur entlang bis zum Wohnzimmer, das, anders als sein eigenes, fast quadratisch war. Obwohl mit kompaktem Mobiliar ausgestattet, bot es viel Platz für Bewegung. Das Erste, was er sah, stellte alle seine Befürchtungen dieses vermaledeiten Tages infrage.
Offenbar hatte Julie gar kein so großes Problem mit der unverhofften Wahrheit. Jedenfalls saß die Mutter, Petra Kraft, mit den Mädchen Anna und Julie verschwörerisch grinsend am großen Esstisch, wo die Frau gerade ihre Hände erschrocken von den Karten zurückzog, die vor dem freien Platz des Vaters lagen.
Die kleine Schummelei der drei Frauen gegen den Vater interessierte ihn nicht. Auch nicht, wie sich drei Grazien auf Kommando mit schuldlosen Mienen zurücklehnten, als warteten sie nur darauf, dass das Rommee-Spiel weitergehen konnte. Dem Vater fiel die versuchte Schummelei der Frauen überhaupt nicht auf; er spielte beflissen den freundlichen Gastgeber für die unverhofften Besucher.
Julie trug ein fremdes Herrenhemd. Ihre vom Duschen noch feuchten Haare waren zu einer Wulst gerollt und nach oben gebunden, was sie reifer erscheinen ließ als sie war. Auch das erfasste Norbert Fuchs nur beiläufig. Vielmehr sah er, wie seine Tochter erstarrte, bevor sie ihr bitteres Lachen hören ließ und ein Gesicht zog, als könnte sie das Auftauchen ihrer Eltern gar nicht fassen und müsste sich bei den Leuten für sie entschuldigen. So war seine Tochter nun mal, was blieb ihm?
»Hat sie Ihnen Probleme gemacht?« Norbert drehte sich erst zu Horst Kraft um, dann suchten seine Augen Annas Mutter Petra, weil es für Männer offenbar niemals Probleme gibt. Für eine Sekunde dachte er an Einstein und dessen Weisheit: Ein kluger Mann löst sein Problem, ein weiser Mann wird ein Problem vermeiden. Also vermeiden! Aber wie, jetzt noch?
»Nein, wieso denn?«, erwiderte Petra Kraft bereits, dabei war es offensichtlich, wie Julie ihren Kopf schüttelte und mit dieser Geste ihre ganze Verachtung ausdrückte. »Julie kann jederzeit bei uns schlafen, aber es war noch so amüsant…«
Ihr Blick streifte die Uhr über der Tür, als deutete sie auf die Zeit, die für die Mädchen noch akzeptabel war. Allenfalls sollte der Blick nur eine Entschuldigung sein.
»Darum geht es nicht. Wirklich Frau Kraft. Es ist nur…« Beinahe war Lisas Stimme hinter Norbert nur ein Räuspern. Offenbar erkannte Petra Kraft die Not der Mutter sofort. Sie legte die sanfteste Stimme auf, für Norberts Geschmack aber etwas zu überschwänglich:
»Es ist doch schön, dass Sie auf diese Weise einmal zu uns finden. Unsere Beiden sind wirklich wie Latsch und Bommel. Solche Freundschaften findet man nicht oft. Wir halten das auch für sehr wichtig.«
»Wir auch, aber manchmal muss man mit den Mädchen auch Klartext reden«, mischte sich Norbert in die Worte der Frauen ein.
Petra Kraft senkte verständnisvoll ihre Lider. Auch sie hatten, bevor Julie unverhofft aufgekreuzt war, mit Anna ein Gespräch, das ihnen sehr wehgetan hat. Aber das war keine Thema für fremde Leute — oder doch. Eigentlich gerade das. Ein kurzer Blick von Petra Kraft zu ihrem Mann besiegelte sein Einverständnis.
»Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit hätten«, sagte Horst Kraft und man spürte, wie seine Stimme zitterte. »Ja«, unterstützte ihn Petra: »Wir wollen … ich wollte sowieso mit Ihnen reden.«
Sie schwieg abwartend einen Moment, dabei bemerkte sie, wie in Lisa Fuchs' Gesicht die Augen flackerten. Über deren Schulter hinweg sah sie Norbert Fuchs noch immer am Türrahmen gelehnt stehen, als habe er es zu eilig, ihr noch zuzuhören. Die Mädchen allerdings hielten sich bei den Händen, als seien sie in einem Schmerz unlösbar miteinander verbunden. In Lisa Fuchs brannte etwas wie Angst, Julie könnte bei diesen fremden Menschen Beistand gegen ihre eigenen Eltern gefunden haben. Viel mehr noch, sie könnte den Grund des nachmittäglichen Zerwürfnisses zusammenhanglos ausgeplaudert haben. Lisa Fuchs stand felsenfest zu ihrer Entscheidung, diese Welt für immer zu verlassen, daran würde kein Mensch etwas ändern können. Aber was sollte es schaden, jetzt zu erfahren, was Annas Eltern von ihnen wussten oder was sie über ihr Vorhaben dachten. Noch rechtzeitig etwas Verbogenes geradezubiegen, half mitunter.
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