Seit einiger Zeit konnte Lisa den Worten von Elli glauben. Sobald ihr Antrag gestellt sei, sollte es möglichst schnell gehen, anderenfalls würden sie alle drei Spießruten laufen. Auch Norbert und Julie. Das wusste sie von einer Familie, die wahrlich allen Grund hatte, ihre Zelte in diesem behüteten Land abzubrechen, aber die letztlich aufgegeben hatte, aus Angst wie aus Frust.
Erst einmal den August ansteuern, dann sehen wir weiter. Lisa Fuchs machte eine abrupte Drehung und schaltete die Maschinen ein. Das Surren und Rattern war seit jeher ihre Musik des Tages. Dennoch konnte sie so herrlich dabei grübeln. Zu Hause kam sie nicht dazu. Zu Hause fuhr sie brav die zweite Schicht; auf ihren Mann Norbert konnte sie nicht bauen. Er kam nie pünktlich von seiner Schicht und war obendrein stets erschöpft wie ein Hirsch zur Brunft während ihr das Putzen, Kochen, Waschen und Einkaufen blieb und ein bisschen wollte sie schließlich noch stricken und nähen, damit dieFamilie modern genug gekleidet war. An das Los der arbeitenden Hausfrau war sie gewöhnt, und was das Nähen und Stricken betraf: Alles konnte Tante Elli nicht aus Hamburg schicken, und den Geschmack der Jugend traf selbst sie als Mutter nicht mehr so genau. Wer von den älteren kannte je die Vorstellungen der Jugend von modern ganz genau. Aber sie tolerierte Julies Wünsche. Anders zu sein war von jeher das Privileg der Jugend. Auch sie hatte sich ihren Geschmack und ihre Meinung über die Dinge des Lebens nicht nehmen lassen.
Wie lange war das her? Da gab es einmal ein Mädchen, fleißig, willig und immer folgsam. Fleißig und willig war Lisa Fuchs noch immer, aber längst nicht mehr an jeder Stelle ihres Daseins. Was war nicht alles geschehen? Unglaublich, wie ein einziger Umstand einen Menschen umkrempeln konnte. Fast wäre sie eine brave Staatsbürgerin geworden, eine mit mehr Gemeinschaftssinn als mit Egoismus gewappnet. Eine mit Opferbereitschaft und Patriotismus. Eine die glaubte, es dürfe gar nicht anders sein, als es ist. Eine, die frei war von Ausbeutung.
Und was war jetzt? Eine merkwürdige Freiheit war das. Nicht einmal die eigene Verwandtschaft durfte man besuchen! Nicht einmal seine ehrliche Sorge darf man irgendwo hören lassen! Und die hohe Norm der Achtfachbedienung? War sie anders als die gescholtene Ausbeutung? Tante Elli nannte es Ausbeutung für den Sieg eures Sozialismus. Hier hieß es: Leistungssteigerung für unser aller Wohl?
Rasch drehte sie sich auf den Hacken um und rannte zur nächsten Maschine, weil dort der Fadenlauf nicht mehr stimmte.
Es war ohnehin sinnlos, über die Maximen des Systems nachzudenken, wenn man diesem bald den Rücken kehren durfte. Immer, wenn ihre Gedanken beim Thema Ausreise verweilten, hörte sie die Maschinen nicht mehr. Es war ihr, als höre sie nur noch Julie und ihr Flehen, sie nicht von Anna-Sofie wegzureißen, was sie bei jeder Gelegenheit zu hören bekamen. Die beiden Mädchen waren wie Pech und Schwefel, und lange Zeit war genau darüber auch Mutter Lisa in großer Freude. Julie war kein Kind, das von anderen besonders geliebt wurde. Sie war mit einer Hasenscharte geboren worden. Zwar hatten sie die notwendige Operation beizeiten durchführen lassen und es war bald nur noch ein roter Strich zwischen Nase und Lippe erkennbar, aber die Kinder in der Krippe hatten sie noch anders kennen gelernt und waren nicht zimperlich mit ihrer Ablehnung. Beinahe hätte Lisa ihre Arbeitsstelle aufgegeben, um ihr Kind zu Hause zu betreuen, aber das sei auch keine Option, hatte Norbert gesagt. Ohne Geld lebe es sich nicht gut, und wenn man dem Kind aus Geldnot auch noch die schönen Dinge des Lebens vorenthalten müsse, leide man selbst mit.
Julie hatte vermutlich wegen der allgemeinen Ablehnung ihren Trotzkopf ausgebildet. Kein Wunder, dass sie kaum Freunde hatte und sich auch später nicht gut mit jemandem vertragen konnte. Sie war bisweilen derart bockig und zänkisch gewesen, als wollte sie es den anderen Kindern heimzahlen. Erst durch die Freundschaft mit Anna Kraft änderte sich das. Von ihr wurde Julie offenbar gemocht und seitdem war sie gefügiger geworden. Vermutlich war das mit den beiden Mädchen ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. Was die eine nicht hat, hat die andere.
Es wird weh tun, eines unverhofften Tages den Schlüssel endgültig vom Schloss ziehen zu müssen.
Auf einmal war wieder Angst in Lisa. Sie zeigte sie nie, aber tief in ihrer Brust war das Gefühl von Verrat, von Egoismus, von Despotismus — das alles waren Eigenschaften, die sie zutiefst verachtete, weil sie sich denen seit Jahren selbst ausgeliefert fühlte.
Ohne es zu merken, stampften ihre Füße härter auf: Man muss ein schöner Idiot sein, wenn man nicht begreift, wie lange das hier noch gutgeht. Man muss auch an die Nachkommen denken. Irgendwann wird es Julie begreifen, dass der Schritt ihrer Eltern nötig und richtig war. In diesem, für sie noch fernen Land, wo alle Freiheiten herrschen, wo jedem die Welt offen steht, zählt nur Fleiß und Talent. Kein Parteibuch. Nicht einmal die Gesinnung, sagte Tante Elli.
Tante Elli hatte viel erlebt im Leben und würde es besser wissen als alle anderen. Sie hatte viel gearbeitet auf ihrem Gut, hatte einige Leute in Brot und Lohn gehabt. Sie hat den Krieg erlebt, erst die Braunen und später die Roten. Aber es sei kein Unterschied gewesen, jedenfalls nach 1960 nicht mehr. Nach dem Beschluss zur Zwangskollektivierung hatten sie täglich vor ihrem Tor gestanden und sie beschimpft und genötigt. Und dann haben sie sie enteignet, weil Junkerland in Bauernhand gehörte.
Freilich, eine Bäuerin war Elli nie, aber sie konnte gut organisieren und arrangieren. Also hatte sie auch arrangiert, dass das zarte Fleisch ihrer Rinder harte Devisen einbringen sollte. Wer sie verpfiffen hatte, blieb ewig unter dem Deckel der Verschwiegenheit. Aber ab dem Moment gehörte ihr Hof und alles, was er einbrachte, einer Genossenschaft, die Landarbeiter inbegriffen. In ihrem Altersstolz hatte sie es noch rechtzeitig vor dem Mauerbau geschafft, die Seiten zu wechseln. Und inzwischen ging ed ihr in Hamburg so gut, dass sie sogar an die armen Verwandten in der Zone denken konnte und mit ihren Zuwendungen nicht kleinlich war.
Wie eine Degenklinge fuhr es durch Lisas Herz. Ihr Entschluss würde andere Konsequenzen haben, als der von Tante Elli. Die Tante kam hin und wieder zurück und schaute auf ihr altes Gut, wenn auch mit Entsetzen. Sie, Lisa, würde nie mehr zurückkommen dürfen. Nie mehr.
NORBERT FUCHS
Sie hatte gewartet. Mit bangem Herzen. Wer untätig ist, leidet viel mehr. Die Tür ging auf und Lisa Fuchs blickte in ein Gesicht, das sie erschreckte. Nicht weil sie erwartet hatte, dass Norbert mit wehenden Fahnen zurück kommen würde. Dass es schwer werden würde, hatten beide geahnt. Aber dieser Blick gehörte nicht zu Norbert. Sie kannte ihren Mann zu gut. Er war ein optimistischer, fast allzu heiterer Typ, wie man Bauarbeiter kennt. Immer zu einem Scherz aufgelegt, zum kleinen Schabernack oder Übermut. Nie war sein Blick so fremd, feindselig beinahe. Dieser Gegensatz erschütterte Lisa, und sie machte sich große Vorwürfe. Das müsste sie gar nicht, immerhin war er es gewesen, der die Sache unbedingt allein durchziehen wollte. Mit ihrer offenen Opposition würde sie alles nur noch schwieriger machen.
Norbert Fuchs trat ins Wohnzimmer, das in seiner Schlichtheit seit ihrem Umzug in dieses neue Wohngebiet beiden Eheleuten genügte. An der schmalen Seite stand dieselbe Schrankwand, die schon ihre alte Wohnung in der Karlstraße zierte. Die schmalen Metall-Leitern rechts und links der Korpus-Teile galten als modern und sie gefielen beiden sogar. Sie dienten als Aufhängung für die prunklosen Kästen aus furniertem Pressholz, die mal mit Türen versehen, mal offen waren. Links neben der Zimmertür stand die Couch, die schon bessere Jahre gesehen hatte, gegenüber vor der Balkontür hatten sie die zwei Sessel mit Holzfüßen und grobem Bezug platziert. Warum sollten sie noch viel Geld ausgeben? Auch ihre Mitgliedschaft in der Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft, hatte sich hoffentlich bald erledigt, wie alles andere auch.
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