Sie schließt die Augen und genießt es, wie der heiße Tee ihren entzündeten Rachen umspült.
Auf den Urlaubsflügen trifft man inzwischen viele Touristen aus Westberlin, bisweilen auch aus der Bundesrepublik. Die INTERFLUG hatte vor einiger Zeit eine Aktion gestartet, freilich, um Devisen zu erwirtschaften, wer könnte ihr das bei dem wachsenden Ansehen der DDR noch verdenken? In der Werbebroschüre aus Hochglanzpapier umgarnt man die künftigen Partner, denen man vollstes Vertrauen schenken könne . Sie weiß natürlich auch darüber Bescheid: Im Westen gelten die IATA-Tarife, während die Preise bei der INTERFLUG durch die Lohnunterschiede bedeutend geringer ausfallen. Einen Langzeittrip nach Bagdad bekommt man hier fast eintausend Mark billiger. Einen Inlandflug immerhin für beinahe einhundert. Was wundern da die Eifersüchteleien von Bürgermeister Albertz, der bei seinen Westberliner Bürgern an Takt und Gefühl appelliert hat, einen neu geschaffenen Reiseweg n i c h t zu benutzen, da dieser nur im wirtschaftlichen Interesse der Zone liegt. Eine westdeutsche Zeitung bescheinigte dem Flugplatz Schönefeld unlängst sogar unansehnliche Gebäude und uralte Vorfeld-Busse auf überaus holprigen Pisten. Was würden dieselben Leute wohl über Brazzaville denken?
Das westdeutsche Lamento ärgert die meisten der dreitausend Beschäftigten des staatlichen Unternehmens INTERFLUG, das mit nur 24 Maschinen im Weltmaßstab ein sehr kleines, aber beständig wachsendes ist. Man tröstet sich an anderen Partnern, wie der SAS Stockholm. Ihr Sprecher schrieb unlängst, er finde die Flugplatzverhältnisse sehr zufriedenstellend: Wir würden sonst nicht dorthin fliegen.
Ihr ist übel. Die Glieder zittern und sie kann das Glas kaum noch in ihren Händen halten. Sie sollte ihre Gedanken abschalten und endlich schlafen. Morgen muss sie fit sein. Und das wird sie auch, schließlich macht die Arbeit Spaß, es war ja ihr Traumberuf. So manches Mädchen würde alles dafür geben, an der Betriebsschule der INTERFLUG studieren zu dürfen und dann ganz automatisch angestellt zu werden.
Noch ehe sie in den heilenden Schaf fällt, kommen wie stets die Bilder für den nächsten Tag.
Morgen wird Heinz, der Kapitän, seinen letzten Flug absolvieren, und den will sie nicht verpassen. Für den Abend in Burgas hat sich die Crew etwas ausgedacht, um Heinz für die wertvollen Jahre der Zusammenarbeit zu danken. Er gehört zu den am meisten geachteten, sehr erfahrenen Piloten, ist immer menschlich und dennoch sehr korrekt. Wer wird ihn wohl ablösen? Heinz fliegt die Maschine seit ihrer Einführung und kann auf über achttausend Flugstunden verweisen. Wohin man den erst 51-Jährigen beordert hat, weiß sie nicht, vermutet aber eine Ausbilderstelle, wie sie die Frau von Navigator Achim auch inne hat. Auch Copilot Lothar und Achim sagen, sie wissen nicht, was Heinz künftig machen wird.
Mit Achim hatte sie erst unlängst ziemlich vertraut geredet und war betroffen von dem, was er mehr angedeutet hat als ausgesprochen. Diese Art von Gesprächsführung ist ihr nicht neu. Kaum einer redet gern vor Kollegen über Unglücke, und an eines von vor neun Jahren kann sie sich ohnehin nicht erinnern. Auch Ingolf, der Flugingenieur, kennt weder das genaue Datum aus 1963, noch den Unglücksort Königsbrück. Zu dieser Zeit war er — wie sie auch — noch gar nicht dabei. Sie weiß es jetzt, es war am 7. Dezember '63, als es wegen eines totalen Stromausfalls eine Bruchlandung mit einer Il14 gab. Der Pilot entschied sich zu einer Notlandung auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück. Das Fahrwerk war blockiert und die Maschine nach dem Notfall nicht mehr tauglich. Für die Rettung der Passagiere waren die Soldaten der dort stationierten Roten Armee sofort zur Hilfe geeilt. Alle 28 Passagiere und die fünf Crew-Mitglieder blieben unverletzt.
Sie hatte Achim Minutenlang angestarrt, und dann fassungslos umarmt, das erste Mal, dass sie eine solche Vertrautheit übermannt hatte. Jeder ist ehrlich froh, wenn es keinen Kollegen erwischt. Sie haben sich dann beide Hals- und Beinbruch gewünscht für die Zukunft, deren Gefahren sie zu teilen haben.
Die letzten Gedanken erreichen Christas Bewusstsein nur noch verschwommen: Die INTERFLUG hat wirklich … gut ausgebildete Leute … umsichtig und verantwortungsvoll .
In der Tasse auf dem kleinen Schränkchen kühlt der letzte Rest des Rooibus aus. Der dunkelhaarige Kopf der erschöpften jungen Frau liegt fiebrig atmend auf dem Kissen, aber die Welt um sie herum wird still und friedlich.
Etwas lässt sie empfindlich zusammenzucken. Sie ist gefallen, sehr tief sogar, was ihre Sinne jetzt narrt. Ein Absturz? Ein Traum nur, nichts weiter. Also hat sie doch recht schnell in den Schlaf gefunden. Aber der Traum war so heftig, dass sich ihr Herz fast überschlägt. Sie setzt sich auf und knippst die Lampe an. Ihr Kopf hämmert noch mehr als am späten Abend. Das macht sie einerseits wütend, andererseits ist sie viel zu schwach, um an Aufstehen zu denken, geschweige an Arbeit, wo sie ständig lächeln und möglichst leichtfüßig sein muss. Sie muss gleich in der Frühe irgendwo anrufen gehen. Die Crew braucht Ersatz für sie. So kann sie nicht nach Burgas fliegen, auch wenn es ihr tausendmal leid tut. Die Chefin Marlis findet einen Weg, sie zu ersetzen.
Das Wort Ausreise wurde im Hause Fuchs noch nicht ausgesprochen, zumindest, wenn Julie in Hörweite war. Aber wird eine Sache leichter, nur weil man sie nicht ausspricht?
An einem Samstag im Juni saßen sie auf dem Balkon, tranken Kaffee und aßen Julies Lieblingsgebäck, das Lisa am Freitag in der Traditions-Konditorei in der Bahnhofstraße bestellt hatte: Zitronen-Sahne-Torte.
Ein bisschen eng war der Balkon für drei Leute, aber man konnte nach Feierabend oder an den Wochenenden an der frischen Luft sitzen, was ihnen in den Jahren in der Karlstraße nie möglich war.
Ganz vorsichtig nur, als sei es rein hypothetisch, erwähnte Lisa, dass in Tante Ellis Haus in Hamburg eine ganze Wohnetage inklusive geräumiger Hochterrasse für sie bereitstehe und dass sie, sofern Elli stirbt, als Alleinerben anerkannt seien, weil Elli keine weitere Familie mehr hat.
»Dein Optimismus in allen Ehren«, antwortete Norbert, »ich sehe seit Kurzen mehr schwarz als rosig. Und du weißt warum. Vielleicht kostet uns die Sache sogar bald die Arbeitsstelle. Wir müssen mal ganz realistisch bleiben.«
»Nie und nimmer!« Lisa hob die Kaffeekanne an und füllte Norbert ungefragt noch einmal die Tasse mit ihrem gutgehüteten Eduscho voll. »Die brauchen hier jeden Mann und jede Maus. Das wird dir doch auf dem Bau nicht entgangen sein. Unser Werk hat große Pläne. Und was denkst du, wer erfüllt dieses gigantische Wohnungsbauprogramm? Ne, ne, mein Lieber, jetzt erst recht. Und wenn ich selbst mal zu Pfarrer Morawietz fahre. «
Julie spitzte ihre Ohren. Zuletzt blieb ihr der Bissen beinahe im Hals stecken. »Was heißt denn das alles?«, schrie sie, weshalb Norbert sie zur Ordnung rief. Noch konnte es den Anschein haben, es sei allein wegen der Lautstärke. Aber diese Annahme musste für jeden, der sie hörte, im nächsten Moment als Trugschuss gelten.
»Pass auf, dass morgen nicht gleich im ND zu lesen ist, die Fuchses wollen in den Westen.« Wie nur selten flüsterte der Vater diesen Satz, während er sonst die Lautstärke bevorzugt, die Julie benutzt hatte und die man gewöhnlich auch auf dem Bau benötigte.
Julie sprang so heftig vom Stuhl, dass der mit Gepolter auf dem Betonboden aufschlug.
»Das wollt ihr doch nicht wirklich! Jetzt? Oder?«
Lisa rollte mit den Augen und Norbert zog die Schultern an. Einmal musste sie es ja erfahren. Wie hieß das Sprichwort, das die Kumpel auf dem Bau gerne heraus posaunten, wenn es knifflig wurde: Wer Lotto spielt, ist vor dem Gewinn nicht sicher.
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