Einzig den Fernseher hatten sie neu angeschafft. Man musste ja wissen, was in der Welt passierte. Ihr erstes Modell hätte vermutlich die verbotenen Sender nicht empfangen können. Vermutlich. So genau wusste es niemand, weil man in diesem Falle keinen danach befragen konnte. Keinen.
Norbert Fuchs sah sofort, wie ruhelos Lisa dasaß, ihre Strickerei im Schoß, und wie sie ungeduldig mit dem Fuß wippte. Er setzte sich auf die Lehne, als habe er es eilig, gleich wieder aufzustehen. Sein Schweigen ließ nichts Gutes hoffen, was Lisa offenbar längst erkannt hatte. Wie könnte er ihre Worte anders verstehen?
»Hoffnung ist wie das Morgenrot«, sagte sie leise, gerade so laut, dass Norbert es noch hören konnte. Er legte dankbar seine Hand auf ihre und dachte bei sich: Es sind nur Worte, die aus der heilen Welt gefischt, herbei geflattert kommen, aber den Gegenwind nicht bedenken.
Und den Gegenwind hatte er heute zu spüren bekommen. Er wollte ihr von seiner Erfahrung bei der Behörde erzählen, aber nicht jedes Detail und schon gar nicht die Erniedrigung, die er schmerzlich gespürt hatte. Konnte man das begreifen?
Unter seiner warmen Hand spürte er Lisas Haut erzittern, wie von einem Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Hoffnung, dachte er. Ja, Hoffnung war das Einzige, was ihnen blieb. Seine stets feste Zuversicht war heute verschüttet worden. Bisher war ihm die Sache nicht wirklich so viel wert, wie sie Lisa wert war. Aber seit heute wusste er, dass jetzt auch für ihn etwas Neues begann — sein Kampf, um das Ziel zu erreichen. Sein Ziel lautete zwar nicht Tante Elli in Hamburg. Sein Ziel war, wie es der Wittichenauer Pfarrer Morawietz nannte, sein Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Er schämte sich seiner Niederlage vor dem arroganten Amtsschimmel nicht im Geringsten. Er verfluchte zum ersten Mal aus vollem Herzen die Politik, die Partei, und nun besonders den Sicherheitsapparat, für den er bislang nur Häme empfand. »Ein zahnloser Löwe mit gestutzten Krallen«, so hatte er bei seinen Kumpels gerne getönt, wenn er zwischen Mörtel und Betonplatten, zwischen Verbundarbeiten und Dämmungen einen Grund dafür fand. Der bestand zumeist dann, wenn jemand schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Und die hatte jeder, der so manches nicht begreifen konnte. Nun sollte er die scharfen Krallen zu spüren bekommen, und er würde sie wohl oder übel aushalten müssen.
Zu Lisa sagte er: »Schnucke, wir müssen zuversichtlich bleiben. Warum sollte man einen Bauarbeiter und eine Strickerin mit allen Mitteln aufhalten wollen?«
Aber dann wurde er konkret: Nach einem beharrlichen Schlagabtausch, bei dem er gar nicht so schlecht ausgesehen hatte, habe das behördliche Argument im Raum gestanden: »Ihre Tochter geht doch auf die EOS? Was glauben Sie, wer einem Bauarbeiter und einer Strickerin im Westen die höhere Schule so ohne weiteres ermöglicht hätte. Kostenfrei, wohlgemerkt. Wir tun alles für das Wohl der Arbeiterklasse. Das scheint Ihnen gar nicht bewusst zu sein. Manchmal wünsche ich, Ihnen und Ihresgleichen könnten die sozialen Vorzüge einfach gestrichen werden. Freie Medikamente. Fast kostenloser Nahverkehr. Und was glauben Sie, zahlt man drüben für ein Brot und für einen Zentner Kartoffeln. Von Milch und Mehl ganz zu schweigen. Und die niedrigen Mieten? Sie wohnen doch im modernsten Neubau unserer Stadt. Keine 80 Mark. Oder? Werden Sie drüben die 600 Mark im Monat überhaupt aufbringen können?«
Es hätte nichts gebracht, mit dem Mann über die materiellen Dinge zu reden, die er und Lisa genau durchdacht haben. Noch weniger sinnvoll war es, ihn oder irgendjemand von der Obrigkeit spüren zu lassen, dass sogar Tante Elli die »soziale Seite« der DDR lobte, aber zugleich in ihrer Wirkung für das große Ganze sehr skeptisch sah. Also war er bei der ideellen Seite geblieben: »Vielleicht will unser Kind ja einmal mehr von der Welt sehen als…« Das hatte er sehr vorsichtig gesagt. Genauer darüber zu reden, was er von den Reisebeschränkungen hielt, hatte er sich nicht getraut, ohne gründlich über jedes einzelne Wort nachdenken zu können. Was gab es auch noch nachzudenken? Die Welt würde sich nicht ändern, es würden immer verschiedene Systeme nebeneinander existieren, die sich feind sind. Sie wären also immer in diesem einen System gefangen.
»Selbst wenn man jedes Jahr ans Schwarze Meer könnte… Die Welt ist groß und bunt. Warum vorenthält man uns das Reisen?«
»Wieso das Reisen? Wann waren Sie zuletzt am Schwarzen Meer«, hatte ihn das errötende Gesicht gefragt, bis es sich mit einem Schlag verändert hatte, als gäbe es eine rettende Idee.
»Noch nie. Dieses Jahr das erste Mal. Wir arbeiten beide in der Produktion, da stünde uns … «
Sichtlich erleichtert setzte der Mann seinen Kugelschreiber hörbar hart auf das Papier und kritzelte etwas auf den Rand eines winzigen Zettels, der am oberen Ende seines Blockes geklebt hatte und nun auf einem gelben Ordner landete. Er schaute von unten über den Brillenrand und spitzte seine Lippen: »Und warum setzen Sie dieses Privileg jetzt aufs Spiel?«
Dieses Privileg? Genau das hatte er gesagt. Konnte man das glauben!
Norbert Fuchs schwieg nach seiner Schilderung der Lage lange. Seine Frau Lisa schien zu grübeln, wie sie immer grübelte, wenn sie glaubte, dass es noch einen anderen Weg gab. Ja, es hätte einen gegeben, vermutlich. Aber das war ihm erst zu spät bewusst geworden. Nun hatte er den ersten Schritt getan und konnte nicht mehr zurück.
»Wie haben es denn die anderen angestellt«, flüsterte Lisa Fuchs. »Zweikommasieben Millionen sollen schon abgehauen sein. Zweikommasieben!«
Er wollte auf keinen Fall mit Lisa streiten. Nicht um diese Sache. Es gab in ihrer Ehe durchaus Dinge, die sie verschieden sahen. Aber zu ihrer Ausreise hatten sie sich nach langem Überlegen durchgerungen. In dieser Minute kam es ihm nur so vor, als denke sie, er habe an diesem Tag versagt.
»Wir werden sehen«, sagte er lapidar und erhob sich. In seinem tiefen Inneren kamen ihm die Worte vor, als habe er soeben Amen gesagt. Amen, was ihm seit Kindesbeinen nie mehr laut über die Lippen gerutscht war. Das letzte Mal hatte er als Fünf- oder Sechsjähriger laut gebetet, weil seine Großmutter es von ihm erwartet hatte . Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen.
Was sollte er mit Lisa noch lange darüber reden? Auch ihr war es schließlich klar gewesen. Ein Ausreiseantrag galt noch immer als illegal und konnte mit Gefängnisstrafe geahndet werden. Ausgenommen waren Rentner und Invaliden. Sollte er sich zum Invaliden knüppeln, nur um seiner Frau den Seelenfrieden zu retten und ihm die Genugtuung des Siegers zu verschaffen? Ein schöner Sieg wäre das. Schwer wäre es freilich nicht. Bei der Schlamperei auf dem Bau ginge es ganz fix. Aber die Konsequenzen konnte keiner erahnen. Was, wenn er dabei zu Tode kommt? Oder wenn nur ihm, aber nicht seiner Familie das Recht der Ausreise zugesprochen würde?
Nach seiner Meinung hätten sie ohnehin warten sollen, bis Julie ihr Abitur in der Tasche hatte. Dieser achtsamen Ansicht war auch Pfarrer Morawietz gewesen. Bei seinem Einsatz für ein Großprojekt in Hoyerswerda war er mit ihm zusammengetroffen. Bei einem vorsichtigen Treffen mit ein paar christlichen Kollegen sagte der Mann, es stehe bevor, dass die DDR die UN-Menschenrechts-Charta unterzeichnet. Dazu gehöre das Recht ihrer Bürger auf Freizügigkeit. Bis dahin aber fehle jedem offenen Protest die staatliche Rechtsgrundlage. Jeder, der mit der DDR brechen möchte, sei in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Da zählten so lapidare Argumente wie Familienzusammenführung oder Erbantritt rein gar nichts.
Manchmal bedauerte Norbert, dass er lange keinen intensiveren Kontakt zur Kirche hatte. Unterschwellig hatte er herausgehört, dass sich die Ausreisewilligen vernetzten , wie der Pfarrer es nannte, und dass sie bald öffentlich aufzutreten gedachten. Unter dem schützenden Dach der Kirche, wohlgemerkt. Im Sächsischen stünde da etwas bevor. Dort habe ein Arzt eine Unterschriftensammlung von Ausreisewilligen initiiert, die er auf den Weg in westliche Medien bringen wollte, eine Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte.
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