Sie drehte sich zu Karim um und sagte: „Schnee, mein Bester. Und so viel …“
Karim sprang aus dem Bett und kam zu ihr ans Fenster. Seine Augen begannen vor Begeisterung zu leuchten. Es hatte über Nacht etwa zwanzig Zentimeter Neuschnee gegeben. Eilig zog er sich an und lief die Treppe hinunter. Er öffnete die Tür zur Terrasse und stand bis zu den Knöcheln versunken in dem kalten weißen Pulver. Er bückte sich, um das frische lockere Weiß in die Luft zu werfen.
Katja hatte sich angezogen, stand im Wohnzimmer, schaute zu und wusste das erste Mal, was Daniel damals damit gemeint hatte, als er sagte, Karim wäre verrückt nach Schnee. Sie fand bis dahin Schnee nicht so wichtig, aber als sie seine Begeisterung sah, ließ sie sich anstecken. Sie zog sich Jacke und Schuhe an und ging zu ihm auf die Terrasse.
Die Schneeballschlacht war für beide ein großer Spaß. Danach gingen sie zum Aufwärmen unter die Dusche und frühstückten mit Blick auf die weiße Pracht. Nach dem Frühstück lief Karim hinaus und suchte in der Garage den Schneeschieber. Er schippte die Einfahrt frei und dann gleich noch die halbe Straße. Katja sah ihm vom Fenster aus zu. Als er wieder hereinkam, war ihm heiß von der Arbeit. Seine eiskalten Hände aber schob er unter ihren Pullover.
„Nein! Nein, lass das! Das ist saukalt!“, schimpfte Katja.
Karim ließ sich nicht beirren. In seinem Übermut warf er sie sich über die Schulter und trug sie bis zum Wohnzimmertisch. Mit Blick auf den verschneiten Garten küsste er sie leidenschaftlich.
„Ich liebe Schnee“, sagte er. „Fast so sehr wie dich.“
„Der bleibt sicher liegen, wenn es weiter so schön kalt ist. Da wirst du noch viel Freude daran haben. Leider kommen wir hier erst wieder weg, wenn die Straßen geräumt sind.“
„Wir müssen nirgends hin. Ich beginne nun doch erst im Januar mit der Arbeit und du hast Ferien. Also bleiben wir hier. Bett und Schnee, alles gut.“
Bis zum Heiligen Abend schneite es nicht mehr und die Straßen waren auch bald geräumt. Ansonsten war genug Schnee liegengeblieben und sie gingen jeden Tag spazieren. Für einen Schneemann war der Schnee zu locker, aber eine Schneeballschlacht pro Tag musste einfach sein. Am Heiligabend fuhren sie in Karims Wohnung und saßen bis tief in der Nacht am Kamin. Er hatte sich von Daniel Holz geholt, ihm aber nichts davon gesagt, dass er jetzt mit Katja zusammen war.
Am ersten Feiertag waren sie zum Mittagessen mit Bea, Nick und Lauren verabredet. Lauren hatte im April den süßen Oliver zur Welt gebracht. Katja hatte bis jetzt nur Bilder gesehen. Sie musste an Jannis denken und es tat weh, aber sie freute sich für Nick, dass er mit Lauren und seinem Sohn glücklich war.
Die Möglichkeit, ein eigenes Kind zu haben, war mit Karim wieder greifbar, aber wollte sie mit vierzig noch ein Kind bekommen? Sie nahm seit März wieder die Pille, denn ihre Regel hatte verrückt gespielt und sie hatte sich bis zu fünf Tage mit Bauchschmerzen gequält.
Die Frauenärztin hatte ihr empfohlen, dass sie eine Pille wählen sollte, die man durchgehend nimmt. So bekam sie gar keine Regel mehr und die Bauchschmerzen blieben aus. Es hatte auch den Vorteil, dass sie immer störungsfrei Sex haben konnte. Bea öffnete mit dem Kleinen auf dem Arm die Tür. Katja blieb zurückhaltend, aber Karim freute sich sehr.
Der kleine Oliver lachte ihn direkt an. Er streckte die kleinen Ärmchen nach ihm aus und Bea gab ihn sofort weiter. Karim hielt ihn vorsichtig fest. Oliver zog an seiner Nase, an seinem Ohr und an seinen Locken.
Als der kleine, blonde Junge Katja über Karims Schulter hinweg anlächelte, wurde sie lockerer und schnitt ein paar Grimassen. Dann gingen sie ins Wohnzimmer. Nick stand auf und begrüßte Katja mit einem Kuss auf die Wange. Lauren war in der Küche und winkte ihr fröhlich zu. Nick nahm seinen Sohn und legte ihn auf die Spieldecke.
Sie aßen in diesem Jahr Steak mit Pfeffersoße, Kroketten und Gemüse. Karim lobte Beas Kochkünste und Katja hatte zum Dessert Zitronencreme mitgebracht. Alle gingen danach spazieren, spielten mit Oliver und tranken Kaffee. Katja konnte den Kleinen nicht auf den Arm nehmen, aber es fiel nicht weiter auf, denn Karim war Feuer und Flamme. Er trug ihn voller Begeisterung im Zimmer herum.
Am Abend daheim sagte Katja: „Du warst sehr süß mit dem kleinen Kerlchen. Jetzt erzähl mir nicht, dass du genauso verrückt nach Kindern bist wie Daniel.“
„Nein, nicht ganz so sehr. Es wäre toll, ein Baby zu haben, aber ich komme auch ohne Kinder klar. Wenn ich mir ab und zu so einen kleinen Engel wie Oliver ausleihen kann, ist das in Ordnung.“
Katja küsste ihn und war erleichtert, dass ein Kind keine Rolle in ihrer Beziehung spielen würde. Karim war nachdenklich geworden.
„Ich habe gesehen, dass du Distanz gehalten hast. Tut es noch sehr weh? Der Verlust von Jannis?“
„Ja, in solchen Momenten wie heute tut es weh. Auch, dass ich mit Daniel kein Kind haben kann, ist dann immer wieder in meinem Kopf. Ich hätte geheult, wenn ich ihn gehalten hätte. Ich habe erst Jannis verloren, dann Nick, dann Daniel …“
Sie schwieg traurig.
„Bitte lass mich nicht alleine!“
Eine Träne lief über ihre Wange.
Karim strich sie mit dem Zeigefinger weg.
„Niemals.“
In der Nacht zu Silvester wurde es klirrend kalt. Gegen Morgen waren es fast zwanzig Grad unter null. Cora und Michel waren in die Sonne geflogen. Katja und Karim fuhren am Nachmittag zu Daniel und wollten ihm einen guten Rutsch in das neue Jahr wünschen.
Daniel war allein.
„Warst du bei Isabelle zu Weihnachten?“, fragte Katja Daniel beim Kaffeekochen in der Küche.
„Oh ja, wir hatten ein paar schöne Tage. Aber ich wollte nach Weihnachten wieder heimkommen, weil ich eine große Lieferung fertigmachen musste. Isabelle hat den Auftrag in Spanien bald erledigt, dann sehen wir uns wieder öfter. Sie ist eine tolle Frau, ihr werdet euch mögen.“
Karim kam herein und legte den Arm um Katja. Daniel sah ihn überrascht an.
Karim küsste Katja. Daniel schluckte.
Karim setzte sich an den Tisch und zog Katja auf seinen Schoß.
Daniel war blass geworden und fragte: „Seid ihr … ähm … seid ihr beide … seid ihr jetzt zusammen?“
Karim schaute ihn an und nickte. Katja sah sofort den riesigen Schmerz in Daniels Augen und erschrak. Im selben Augenblick spürte sie eine tiefe Liebe zu ihm und es tat unendlich weh, ihn so zu sehen.
Daniel schluckte nochmals, setzte ein unechtes Lächeln auf und sagte betont fröhlich: „Das ist ja super! Ich freue mich so für euch.“
Er schaffte es, um den Tisch herumzugehen und Katja zu drücken, Karim klopfte er auf die Schulter. Dieser hatte Katja und Daniel die ganze Zeit beobachtet. Die Liebe zwischen den beiden war fast greifbar. Er wusste, dass seine besten Freunde sich immer noch liebten. Plötzlich ahnte er, was an der Sache mit Isabelle nicht stimmte, aber er schob seine Gedanken zur Seite und wechselte schnell das Thema.
„Wie wirst du den Jahreswechsel begehen? Bekommst du Besuch?“
„Nein, ich bin alleine. Wollt ihr nicht bei mir bleiben? Wir könnten uns etwas zu essen bestellen und ihr könntet im Gästezimmer übernachten.“
Katja war immer noch flau im Magen. Wie sollte sie denn mit Karim … hier im Haus … mit Daniel unter einem Dach?
Ehe sie ablehnen konnte, sagte Karim: „Klar können wir bleiben. Dann bist du nicht so einsam.“
Er hatte vor, Daniel noch ein bisschen über Isabelle auszuspionieren und wenn er genug wusste, würde er noch einmal alleine herkommen und ihn zur Rede stellen. Der Gedanke, der ihm gekommen war, war absurd, und genau darum war er sich sicher, dass er recht hatte. Er würde jetzt aber erstmal Daniel mit seiner Nähe zu Katja noch mehr verwirren.
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