„Vielen Dank“, meinte ich, als ich zu ihr aufschloss.
„Schon gut.“ Ihr flüchtiges Lächeln verwandelte sich in eine Mischung aus Ärger und Panik. Aber ihre Aufmerksamkeit galt nicht mir, sondern einem unscheinbaren schlanken Mann in Begleitung einer wunderschönen Blondine mit langen Locken, die einen halben Kopf größer als er war.
„Verdammt!“ Eileen drehte sich zu mir um, schnappte meinen Arm und zog mich hinter ein Regal. Ich war zu überrascht, um zu protestieren. „Das sind Cameron und Helen“, zischte sie. „Nicht auszudenken, wenn die mich hier mit dir …“
Ich machte mich los. „Du könntest ja sagen, du hättest großzügiger weise deine Haushälterin zu einem Einkaufsbummel eingeladen. Das wäre nicht einmal gelogen.“
Es stimmte wirklich. Seit ich vor einem Monat nach London gekommen war, durfte ich die Hausarbeit für Eileen erledigen und in ihrer Abstellkammer wohnen. Natürlich zahlte ich keine Miete. Ich öffnete den Mund, um meine Bemerkung abzuschwächen, aber es war bereits zu spät.
Eileens Augen funkelten kalt. „Was soll das? Du solltest dankbar dafür sein, dass ich so großzügig zu dir bin. Ich hätte dich auch auf der Straße stehen lassen können, nicht wahr?“
Ich schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. „Tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Es war nur Spaß.“
„Humor ist nicht gerade deine Stärke, also lass das“, sagte Eileen bissig. „Vielleicht war ich tatsächlich zu großzügig zu dir. Du solltest dir endlich eine Stellung suchen, damit du mir nicht mehr auf der Tasche liegst.“
„Klar. Ich bin ja dabei.“
„Das sagst du schon, seit du bei mir angekrochen bist. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich mich für dich schäme? Und jetzt komm.“ Sie packte wieder meinen Arm und ich unterdrückte einen Aufschrei. Das Paar war nicht mehr zu sehen, trotzdem zog mich Eileen hinter sich her wie ein ungezogenes Kind, das bei einem unerlaubten Ausflug ertappt worden war.
„Mir ist die Lust aufs Einkaufen vergangen“, schnaubte sie.
Mir auch , wollte ich sagen, aber ich schluckte die Bemerkung hinunter. Ich wollte sie nicht noch mehr reizen, denn dann würde ich es zu Hause büßen müssen.
Zu Hause. Das stimmte eigentlich nicht. Ich hatte keines, schon eine Weile nicht mehr. Ich war eine Versagerin, brachte nichts auf die Reihe.
Auch Eileen hatte ihre Einkäufe bei der Kassa hinterlegen lassen und als wir in der Schlange standen, durchsuchte ich heimlich meine Tasche. Nein, da war nichts, was nicht mir gehörte. Trotzdem brach mir der kalte Schweiß aus, als wir näher rückten. Eileen trommelte mit den Fingern auf ihren Unterarm. Sie hasste es, anstehen zu müssen, aber aus einem anderen Grund. Sie war mittlerweile daran gewöhnt, bevorzugt behandelt zu werden.
Als sie bezahlte, stockte mir kurz der Atem. Für diesen Betrag hatte ich kurz zuvor noch beinahe ein Jahr lang arbeiten müssen. Sie holte ihre Kreditkarte heraus, ohne mit der Wimper zu zucken. Bevor ich die unzähligen Taschen und Tüten in Empfang nahm, schob ich noch hastig das Päckchen mit der Unterwäsche in meine Handtasche. Ich würde sie bestimmt nicht tragen, das wusste ich schon jetzt. Ein jämmerlicher kleiner Sieg, der mich nicht mit Stolz erfüllte. Wieder einmal wurde mir bewusst, welch tiefe Kluft uns trennte.
„Nun komm endlich.“ Eileen wartete bereits ungeduldig beim Ausgang, während ich mich bemühte, keine der Tüten zu verlieren. Sie hatte schon ein Taxi gerufen. Ich verstaute ihre Einkäufe im Wagen und hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr auf ihre miese Laune und ihren Kommandoton.
„Ich gehe noch ein wenig spazieren“, sagte ich, aus einem Impuls heraus. Sie zog die Brauen hoch und warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Und wer trägt mir dann die Einkäufe hoch?“
Ich lächelte. „Vielleicht hilft dir der Taxifahrer? Du kannst ihn bestimmt mit deinem Charme dazu bringen.“
Eileen sah mich scharf an, aber ich bemühte mich, eine harmlose Miene zu machen. Sie warf ihren Kopf zurück, schüttelte ihre Mähne und bedachte den Fahrer mit einem verführerischen Lächeln. „Sie sind doch so gut, nicht wahr?“
Der Mann – ein gemütlicher Typ mit Bierbauch und Glatze, geschätzte Fünfzig plus – ging sofort auf ihren zuckersüßen Ton ein. „Aber natürlich, Miss. Kein Problem.“
Ich wandte mich ab, wusste nicht, ob ich wütend, erleichtert oder einfach nur angeekelt sein sollte. Aber eines war sicher – ich musste von Eileen loskommen, je eher, desto besser. Sie war drauf und dran, meine mühsam erkämpfte Unabhängigkeit und meinen ohnehin nur schwach ausgeprägten Selbstwert aufs Neue zu zerstören. Nur – wie sollte ich das schaffen? Ohne Geld, ohne Job, ohne Wohnung, mit einer Vergangenheit, die mir schon mehr als einmal zum Verhängnis geworden war?
Ziellos wanderte ich durch die Straßen Londons. Ich wollte weg hier, sehnte mich nach der Ruhe und Beschaulichkeit meines Heimatorts, obwohl ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Vielleicht wurde mir deshalb einfach alles zu viel. Der Verkehrslärm, das triste Novemberwetter, Maggies – nein, Eileens furchtbare Laune. Warum nur hatte ich geglaubt, bei ihr Zuflucht finden zu können? Gut, sie war meine Schwester, meine einzige Angehörige. Aber was bedeutete das schon? Uns trennten Welten und ich sollte mich endlich von der Vorstellung verabschieden, dass eine Familie Zusammenhalt bot. Bei uns war das nie der Fall gewesen. Meine Eltern hatten sich kaum um uns gekümmert. Zum einen lag das daran, dass sie beide sehr verschlossen waren. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals Zärtlichkeiten ausgetauscht hätten, zumindest nicht in unserer Gegenwart. Zum anderen waren sie nur mit ihrer Arbeit beschäftigt, die gerade genug einbrachte, um die Familie über Wasser zu halten. Immerhin hatte ich die Möglichkeit bekommen, das College für Hauswirtschaft in Glasgow zu besuchen und abzuschließen. Maggie hatte schon immer völlig andere Pläne gehabt. Sie hatte von einem Leben in London geträumt und nun schien ihr Wunsch Wirklichkeit geworden zu sein. Warum war sie dann trotzdem nicht glücklich?
Meine Gedanken hatten mich unbewusst zum Hyde Park getragen. Obwohl er ebenfalls in trostloses Novembergrau gehüllt war, atmete ich auf. Hier war es wenigstens ruhig. Ich verlangsamte mein Tempo und spazierte entlang der Serpentine. Die Wasserfläche breitete sich vor mir aus, ein leichter Nebelfilm lagerte darauf. Der künstlich angelegte Teich strahlte etwas Unwirkliches, Fernes aus und plötzlich kam ich mir vor, als wäre ich aus Zeit und Raum gefallen. Ich schwebte im Nichts, gehörte nirgendwo hin. Ein Gefühl, als löse ich mich in Millionen von winzigen Teilen auf. Ich schnappte nach Luft, starrte auf einen fixen Punkt vor mir, um mich zu sammeln, entdeckte eine Bank, die am Rand des Teiches stand. Ich ging darauf zu, setzte mich, obwohl ich es wahrscheinlich nicht lange in der kühlen Feuchtigkeit aushalten würde. Aber mir graute dermaßen davor, in Eileens Wohnung zurückkehren zu müssen, dass ich beinahe alles in Kauf genommen hätte.
Ich schloss die Augen und genoss die Stille, die nur durch das ferne Lärmen des Verkehrs und vereinzelte Stimmen der wenigen Spaziergänger unterbrochen wurde.
„Hi, Liebes, nun warte doch mal!“, hörte ich plötzlich eine atemlose Stimme unweit von mir. Unwillig über die Störung öffnete ich die Augen. Ein paar Meter entfernt standen zwei Frauen. Ich hatte sie nicht kommen hören und sie schienen mich nicht zu bemerken. Ich blinzelte. Eine von ihnen erkannte ich wieder. Das war doch – ja, genau! Ich hatte sie bei Harrods gesehen, in Begleitung eines Mannes. Eileen hatte unbedingt vermeiden wollen, dass sie uns entdeckten. Wie hieß sie nur? Richtig, Helen.
Ich betrachtete die beiden verstohlen. Die andere Frau trug Sportkleidung und war offenbar gejoggt. Der enganliegende Dress zeigte jedes Detail ihres perfekten Körpers. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und selbst außer Atem wirkte sie, als wäre sie gerade aus einem Modekatalog gehüpft.
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