Manchmal tat er mir leid. Er schimpfte nie zurück, sondern ging einfach ins Wohnzimmer, drehte den Fernseher auf und legte sich auf die Couch. Meist schlief er dabei ein und schnarchte laut.
Es gab nichts mehr zu tun, also setzten wir uns ins Wohnzimmer und sahen Tom & Jerry .
Es war fast sieben, als Dad endlich kam. Ich hörte, wie er die Haustür öffnete und dann in die Diele stolperte. Er fluchte, brabbelte etwas Unverständliches. Maggie und ich sahen uns an. Sie stand auf und schaltete den Fernseher aus. Dad wankte in das Wohnzimmer. Er starrte uns an, schüttelte dann den Kopf. „Ist spät geworden“, nuschelte er und rülpste. Er stank nach Alkohol und Zigarettenrauch und trug noch immer seine Briefträgeruniform, sein Hemd war voller Flecken.
Er setzte sich auf die Couch, stierte einen Moment stumm auf den Boden, dann legte er sich nieder. Gleich darauf begann er laut zu schnarchen.
Wir schlichen auf Zehenspitzen in die Küche zurück. „Zeit, das Abendessen zu richten“, flüsterte Maggie. Ich nickte, war froh, etwas zu tun zu haben.
Sie setzte Kartoffeln auf, ich holte Salat aus dem Garten und gab ein paar Blätter davon Mr Smooth. Vorsichtig streichelte ich mit dem Finger über die winzigen Körper, die an den Zitzen der Mutter hingen. „Ich mag euch gar nicht“, flüsterte ich. Natürlich stimmte das nicht, ich wollte es mir nur einreden, damit ich nicht zu traurig war, wenn sie alle totgeschlagen wurden.
Ich ging in die Küche zurück.
„Ich glaube, Dad hat die Toilette nicht gefunden. Er hat in den Flur gemacht“, flüsterte Maggie. Sie wies mit dem Finger auf die Pfütze. „Du bist dran mit wegputzen!“
„Nein, bin ich nicht. Ich hab das letztes Mal getan!“, wisperte ich zurück.
Sie packte mich am Arm. „Willst du, dass Mum wieder böse wird?“
Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie versetzte mir einen Stoß. „Dann tu, was ich dir sage!“
Also ging ich in die Abstellkammer, holte Eimer und Putzlappen und wischte auf. Ich hielt dabei den Atem an, so lang ich konnte, um den Gestank nicht einatmen zu müssen, aber natürlich schaffte ich es nicht. Beinahe hätte ich mich übergeben. Ich wusch den Eimer und den Lappen mit heißem Wasser aus und schrubbte danach meine Hände, bis die Haut ganz rot war und brannte.
Maggie hatte inzwischen die Würstchen aus der Plastikfolie genommen und in die schwarze, eiserne Pfanne gelegt.
Ich schälte die Kartoffeln und Maggie half mir, sie durch die Presse zu drücken. Dann rührte ich Milch und Butter dazu, ein wenig Salz und Muskatnuss.
„Sehr gut“, lobte Maggie, nachdem sie vorsichtig gekostet hatte.
Als Mum nach Hause kam, war das Abendessen fertig.
Sie ließ sich mit einem Ächzen auf einen Stuhl fallen. Wie immer sah sie furchtbar müde aus und roch nach Putzmittel und Schweiß. Ich hätte mich gerne zu ihr gesetzt, aber das mochte sie nicht. Wenn sie so fertig war, brauchte sie ihre Ruhe.
Sie holte ihre Brille aus dem Beutel, den sie auf den Boden gestellt hatte und kontrollierte die Liste. Wir mussten Häkchen machen, wenn wir eine Arbeit erledigt hatten.
„Was ist mit der Bügelwäsche?“
Wir zuckten beide zusammen. Verdammt, die hatten wir ganz vergessen!
„Tut mir leid, Mum.“ Maggie lächelte süß, aber ich merkte genau, dass sie Angst hatte. „Ich bin nicht mehr dazugekommen. Grandma Hooper war da und wollte unbedingt Tee haben. Also hab ich ihr welchen gemacht. Sie ist einfach nicht nach Hause gegangen.“
Ich staunte. Das war eine geniale Lüge. Jedermann wusste, dass Grandma Hooper nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte und ständig bei irgendwelchen Leuten aufkreuzte. Sie war auch schon manchmal bei uns gewesen, ohne dass Mister oder Mrs Hooper es mitbekommen hatten.
Mum starrte Maggie an. „Margaret Duncan, ich merke es, wenn du flunkerst. Das stimmt doch nicht, oder?“
„Doch“, piepste ich.
Sie sah uns jetzt beide scharf an. Ich senkte den Kopf und zupfte an einem Faden, der vom Saum meines T-Shirts hing.
Für einen Moment war es so still, dass man deutlich Dads Schnarchen aus dem Wohnzimmer hörte. Mum stieß einen tiefen Seufzer aus. „Also wieder einmal einer dieser Tage.“ Mit einem Mal sah sie sehr traurig aus. „Er ist so ein erbärmlicher Schwächling. Ich wünschte …“ Sie sprach nicht weiter. Ich fragte mich, was sie meinte. Dad war kein Schwächling. Er war groß und stark. Er trank eben manchmal ein wenig mehr, als er sollte.
Maggie legte zaghaft die Hand auf ihren Arm. „Wir schaffen das schon, Mum. Ich bügle die Wäsche ganz bestimmt gleich morgen früh.“
Mum lächelte schwach. „Ihr seid großartig, Mädels. Ohne euch würde ich das niemals schaffen.“ Sie strich mir kurz über den Kopf. Ich schluckte, stolz über das Lob. Maggie zwinkerte mir zu. Ja, wir schafften das bestimmt! Wir waren eine Familie!
In dieser Nacht träumte ich von der Elster. Sie lag vor mir auf dem Waldboden. Als ich sie vorsichtig berührte, schlug sie plötzlich die Augen auf und krächzte mich an. Vor Schreck schrie ich auf. Das Gesicht des Vogels verwandelte sich, wurde zu das von Mum. Sie öffnete den Mund, krächzte wieder. Dann schoss ihre Zunge heraus. Scharf und glänzend wie ein Messer, schnitt sie in ihre Lippen. Sie begann zu bluten. Aber sie hörte nicht auf, sich selbst zu verletzen, ihre Zunge kam immer wieder aus ihrem Mund. Ich wimmerte, ich wollte, dass das aufhörte, sofort! Dann wachte ich auf.
„Schhht, ist ja alles gut, ich bin bei dir“, wisperte Maggie in mein Ohr. Sie legte die Arme um mich und hielt mich fest. Ich schmiegte mich an sie, am ganzen Körper zitternd. „Ich hab schlecht geträumt.“
Sie strich über mein Haar. „Ich pass auf, dass die böse Traumfee nicht mehr wiederkommt – versprochen“, flüsterte sie.
Maggies Versprechen beruhigte mich. Meine große Schwester würde für mich da sein, wenn ich sie brauchte. Und ich würde alles tun, damit sie mich mochte. Mit diesem Schwur schlief ich ein.
London, November 2017
Seit Jahren quälte mich ein immer wieder kehrender Albtraum: Ich stand bei Harrods in einer endlosen Schlange an der Kassa und wollte bezahlen. Ich machte meine Geldbörse auf, doch sie war leer. Kein Geld, keine Kreditkarte, nichts. Ich stand wie festgewachsen, wusste nicht, was ich sagen sollte, wäre am liebsten unter den bohrenden Blicken der Kassiererin im Boden versunken. Dann kam ein Mann – vermutlich der Kaufhausdetektiv. Er bat mich, meine Tasche zu öffnen. Ich wollte es nicht tun, aber er nahm sie mir einfach ab und leerte den Inhalt auf den Tresen. Eine heiße Welle lief durch mich, als ich sah, was zum Vorschein kam: Schmuck, Uhren oder auch Dessous. Ich wusste nicht, wie das alles in meine Tasche gekommen war, wollte es erklären, konnte nicht. Diebin! schrie er. Diebin! Polizei!
An dieser Stelle wachte ich immer auf.
Vielleicht wollte ich deshalb nie zu Harrods oder in eines dieser großen Kaufhäuser. Aber jetzt war ich da, stand in der Dessousabteilung und fühlte mich wie erschlagen von der überbordenden Menge an schimmerndem Stoff und Spitze in allen Farben. Maggie hatte auf meiner Begleitung bestanden. Es war ein Fehler, dass ich ihr von meinem Traum erzählt hatte. „Du solltest dich deinen dummen Ängsten stellen, Häschen“, kommentierte sie nur spöttisch.
Seit zwei Uhr nachmittags waren wir unterwegs in diesem Tempel der Kauflust, der überquoll vor Weihnachtsdekoration und suchten Abteilung für Abteilung auf. Maggie durchstöberte voller Unrast Kleider, Schuhe, Taschen, Parfüms und Schmuck, als suche sie nach etwas, was doch nicht zu finden war. Wie nebenbei erstand sie ein Abendkleid von Dior um einen Preis, der mir die Schweißperlen auf die Stirn trieb, dazu passende goldfarbene Sandalen mit schwindelerregenden Absätzen und eine Clutch. Nicht zu reden von den diversen anderen Schnäppchen und Kleinigkeiten .
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