„Das ist gut zu wissen.“ Lillian zog ein zweites Mal an dem glimmenden Joint und inhalierte tief. Die Wirkung der Droge begann sich bereits zu entfalten. Eine angenehme Wärme lullte sie ein und sie hatte das Gefühl, ein klein bisschen leichter zu werden. Den Schmerz von ihrer Stirn spürte sie schon kaum mehr. Und nach dem dritten Zug fühlte sie sich wohler als in ihrem eigenen Bett an einem kalten Wintermorgen. Glenn warf einen Blick auf ihre Kopfwunde. Sonderlich groß war die nicht und nähen musste man sie wohl auch nicht.
„Du solltest daheim die Wunde mit etwas Wasser ausspülen und eine Wundsalbe auftragen.“ Er begutachtete die Wunde weiter und griff dann nach dem Joint. „Das wird schon wieder werden.“ Er nahm ihr den Joint aus der Hand. Die weiße Tüte war inzwischen halb heruntergebrannt, Lillian hatte einen guten Zug drauf.
„Sag mal, was macht eigentlich ein Pfarrer in seiner Freizeit?“
„Lesen, jede Menge lesen“, erklärte Pfarrer Glenn. „Am liebsten über alles, was mit Theologie zu tun hat. Von längst verstorbenen Päpsten über Luther und anderen Weltreligionen bis hin zu Dämonologie. Bist du ein gläubiger Mensch, Lillian?“
Lillian grinste ihn doof an. „Nicht wirklich. Ich hab mich noch nie wirklich mit Religion beschäftigt.“
Glenn stutzte und senkte den Joint. „Tatsächlich? Würdest du behaupten, dass du glücklich bist?“
„Wieso? Spielt das eine so große Rolle?“
„Gibt es etwas, das eine größere Rolle spielt als Glück und Zufriedenheit? Warum glaubst du denn, dass sich Leute der Kirche anschließen? Sie suchen Geborgenheit und jemanden, der sie beruhigt, der sich ihre Probleme anhört und ihnen sagt, dass alles gut wird. Jetzt erzähl aber mal, wie bist du in meiner Teichgrube gelandet? Wer hat dich verfolgt?“
„Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Ich ... äh ... sagen wir einfach mal, dass sich in letzter Zeit Dinge ereignet haben, aus denen ich nicht ganz schlau werde.“
Glenn zog die Augenbrauen hoch und deutete an, dass sie weitererzählen sollte.
„Als wir in Shuus angekommen sind, ist mir ein Typ begegnet. Das erste Mal habe ich ihn vor Spencers Haus gesehen.“
„Wie genau sieht dieser Mann denn aus?“
„Er ist komplett in Schwarz gekleidet.“
„Und wie sah sein Gesicht aus?“
„Schwer zu sagen, er hat ein ziemliches Allerweltsgesicht. Glatt rasiert, kurze schwarze Haare und schlank war er auch. Er muss so in meinem Alter gewesen sein.“
„Als örtlicher Pfarrer kann ich dir sagen, dass es in deinem Alter niemanden in ganz Shuus gibt. Du und Frank, ihr habt den Altersdurchschnitt schwer gesenkt. Ich war mit meinen vierzig bisher immer der Jüngste. Und was ist an dem Mann so komisch?“
Sie erzählte ihm von den Geschehnissen bei Spencer und von dem, was ihr am Eingang des Parks passiert war. Glenn hörte gespannt zu und nahm hin und wieder kleinere Züge von seinem Joint. Als sie fertig war, herrschte für einen Moment Stille.
„Was hat denn Frank zu alldem gesagt?“, fragte Glenn.
„Ich habe mit ihm noch gar nicht darüber gesprochen ...“
„Und dann schüttest du mir dein Herz aus?“, Glenn klopfte ihr auf den Schenkel. „Du bist mir eine, jetzt gehst du nach Hause und redest mit Frank. Vielleicht ist es ein Kumpel von ihm oder ein Exfreund von dir, der dir einen Schrecken einjagen will. Fällt dir da vielleicht jemand ein?“
„Da gibt es tatsächlich jemanden. Tim, den Sandkastenkumpel von Frank. Manchmal weiß er nicht, wann genug ist. Er ist zwar ein netter Kerl, aber ihm kann man alles zutrauen.“
„Na siehst du“, sagte Vater Glenn und stand auf. „Es wird sich alles aufklären. Ich muss jetzt mein Loch zu Ende schaufeln. Und zwar bevor die Wirkung dieses wundervollen Krautes nachlässt. Gartenarbeit nüchtern ist nämlich äußerst langweilig.“
Lillian grinste.
„Es freut mich, dass ich dich ein wenig aufmuntern konnte. Jetzt aber ab nach Hause mit dir. Rede mit Frank.“
„Das werde ich, danke, Glenn.“
Sie stand auf, winkte ihm noch einmal zu und machte sich dann, immer noch leicht betüddelt, auf den Rückweg.
Wieder zu Hause angekommen, versorgte Lillian zuerst ihre Wunde. Nachdem sie das Blut weggewischt hatte, trug sie etwas Wundsalbe auf. Der Riss war klein und ohne jegliches Blut mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. In der Küche machte sie sich eine Tasse Schwarztee und schnappte sich einen Muffin aus dem Süßigkeitenfach. Diesmal quietschte und knirschte nichts. Zusammen mit ihrem Proviant ließ sie sich vor ihrem Zeichenbrett nieder und begann mit der Arbeit. Sie hatte das Gefühl, dass sie der Joint mit genügend kreativer Energie versorgt hatte, um eine erstklassige Holzhütte zu zeichnen.
Die Zeichnerei ging ihr leicht von der Hand und nach kaum mehr als einer Stunde war ihr neustes Werk vollendet. Ein quadratisches Holzhaus mit rundem Dach und einer Sitzbank, die sich über drei Wände erstreckte. In der Mitte stand ein großer Tisch, in den ein Grill eingelassen war. Sie versah das Modell mit dem passenden Namen „Sommernachtsgrill“ und stellte die Daten des Bauplans auf den Server. Jetzt mussten die Kunden die Pläne nur noch einsehen und ihr Feedback abgeben. Wenn es keine Änderungen gab, erhielt sie ihre Bezahlung.
Sie schloss das FTP-Programm, mit dem sie die Daten an den Server übermittelt hatte, und öffnete die Datei Traumhaus. Die Festplatte des Laptops begann zu schnurren und Illustrator baute sich auf. Mit dem Entwurf ihres Traumhauses hatte sie schon so einiges an Zeit verbracht, und immer wieder fügte sie kleine Details hinzu oder änderte Räume ab. Bald sollte der Entwurf fertig sein. Lillian fuhr mit der Maus über das zweite Schlafzimmer und überlegte.
Frank bog in die Auffahrt ein und stellte den Motor ab. Neben ihm schnarchte der junge Beagle, der auf der Heimfahrt von Sophie in den Schlaf gestreichelt worden war. Das junge Tier war am Anfang ganz begeistert gewesen, dem Zwinger entkommen zu sein, doch nach mehreren Kilometern begann es zu winseln und lief unruhig hin und her. Erst Sophies Streicheleinheiten brachten es wieder zur Ruhe.
Frank streichelte dem Beagle über den Kopf. Er wollte ihn wecken und konnte dabei nicht widerstehen, an den Ohren entlangzufahren. Sie waren warm und weich. Mit einem Gähnen erwachte das Tier und streckte sich. Frank stieg aus. Der kleine Beagle plumpste hinter ihm mit dem Kopf voraus aus dem Auto, schüttelte sich und lief zum nächsten Busch. Der Kleine musste mal dringend. Frank öffnete die Haustür und mit einem „Komm!“ war das Tier auch schon ins Haus verschwunden.
Lillian, die in ihren Traumhaus-Entwurf vertieft war, schreckte hoch und sah den kleinen Beagle, der bellend auf sie zugerannt kam.
„Ja hallo“, sagte sie und hob den kleinen Hund zu sich hoch, „wie bist du denn hier reingekommen?“
Niemand konnte einem Welpen widerstehen, nicht mal Lillian, die Hunde eigentlich nicht leiden konnte.
„Na so was“, sagte Frank lässig. „Ich komme nach Hause und finde dich mit einem anderen Kerl im Arm?“
„Och, ist der aber süß“, sagte Lillian und zog ihn ganz dicht an ihre Nase heran. Der Beagle verstand das als Zeichen, ihr das Gesicht abzulecken.
„Dein neuer Liebhaber ist ein Geschenk für Ivan Bogdanow. Er wünscht sich einen Hund und ich hoffe, dass ich damit bei ihm und seinen Brüdern ein paar Punkte sammeln kann.“
Frank trat hinter Lillian und bemerkte die kleine Wunde an ihrem Kopf. „Lilly, was ist passiert?“
„Frank, wir müssen reden. Heute ist etwas passiert, das mir große Angst eingejagt hat, und es war nicht das erste Mal.“
„Erzähl, ich will alles wissen“, sagte Frank und ging vor ihr in die Knie.
Sie setzte den Beagle auf dem Boden ab, der sich in gemütlichem Tempo aus dem Raum bewegte.
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