Lediglich ihr Smartphone mischte sich mit einem Vibrieren in die Waldatmosphäre. Sie erhielt eine Textnachricht von Spencer, der sie und Frank zum Abendessen einlud. Er schrieb, dass er so viele Gäste brauchte wie möglich, denn er wolle eine neue Kreation ausprobieren. Sie und Frank könnten gerne noch jemanden mitbringen.
Nach einem kurzen Nachrichtenwechsel mit Frank bestätigte sie die Einladung und wollte ihr Smartphone wieder in die Hosentasche stecken. Doch sie verfehlte und das Gerät glitt ihr aus der Hand.
Als sie auf den Boden blickte, um es aufzuheben, sah sie eine Maus. Sie stand auf ihren Hinterbeinen und schien sie anzustarren. Lillian starrte zurück. Das Wippen der Baumwipfel im Wind verstummte, und wie sie die Maus anblickte, öffnete das Tier den spitzen Mund. Die Maus schrie und kreischte, als würde sie von innen heraus verbrennen. Der Nager warf sich zur Seite und wälzte sich vor Schmerzen hin und her. In ihren Windungen starrte sie Lillian noch ein letztes Mal direkt in die Augen. Dann zerplatzte sie mit einem lauten Splosh in viele kleine rote Teile. Ihre winzigen Gedärme verteilen sich direkt über Lillians Smartphone.
Lillian blieb der Schrei im Hals stecken. Sie sprang auf und wollte losrennen, doch sie trat ausgerechnet auf die blutige Masse, die gerade noch eine Maus gewesen war. Sie geriet ins Schlittern und taumelte vorwärts, konnte den Sturz aber gerade noch so mit ihren Händen abfangen. In ihrer panischen Eile nahm sie die Kieselsteine, die sich in ihre Handflächen bohrten, gar nicht wahr, sondern rappelte sich auf und rannte davon, immer tiefer in den Park hinein. Während sie davonrannte, lachte die schwarze Gestalt, die sie aus der Ferne beobachtet hatte.
Nichts konnte Lillian jetzt mehr aufhalten. Sie rannte. Den erdigen Weg entlang, einen kleinen Hügel hinunter und vorbei an einem dicken Baumstamm. Hätte sie ihre Geschwindigkeit auch nur für einen Moment verringert, wäre ihr vielleicht auch das Schild aufgefallen, das darauf befestigt war:
BAUSTELLE IN 50 METER
Aber Lillian war auf der Flucht. Sie sprang über eine Wurzel, die ihr im Weg war, und rutschte über ein paar nasse Blätter. Fast wäre sie wieder gestolpert, doch der weiche Mulch, der den Blättern folgte, stabilisierte ihre nächsten Schritte und ermöglichte ihr das erneute Beschleunigen. Alles rauschte an ihr vorbei, sogar die Furcht, die sie ursprünglich hatte flüchten lassen. So hatte sie sich seit dem Studium nicht mehr gefühlt. Damals war sie regelmäßig einmal die Woche mit Bea joggen gewesen. Ihr Körper erkannte sofort, was gerade passierte, und schickte die nötige Energie an ihre Muskeln. In ihrem Hirn breiteten sich bereits die ersten Endorphine aus und verjagten ihr Angstgefühl. Der verängstigte Gesichtsausdruck verschwand. Ein Gefühl von Glück hatte sie vollkommen übermannt. Sie rannte ziellos vor sich hin, bis ihr Körper sich daran erinnerte, dass ihm die nötige Übung fehlte, um derartige Sprints länger durchzuhalten. Umgehend meldeten ihre Muskeln die Kapitulation an und sie wurde langsamer. Das Atmen wurde mühsamer und sie bemerkte, dass sie viel mehr Zeit damit verbrachte, ein- als auszuatmen. Schon bald würde sie zum Stehen kommen und dann würde das Seitenstechen einsetzen. Entkräftet blickte sie zu Boden und verlangsamte ihr Tempo. Als sie endlich wieder aufschaute, erfasste sie innerhalb eines kurzen Augenblicks zwei Dinge: Erstens, direkt vor ihr lag ein zwei Meter tiefes Loch, das die Form einer Niere hatte, und zweitens, hinter dem Nieren geformtem Loch stand der Unbekannte in Schwarz. Er lehnte gegen eine Schaufel und winkte ihr mit einer Hand zu, wobei er lediglich seinen Finger auf und ab bewegte. Sie bremste ab.
STOP!
Sie wollte sich umdrehen, um in die andere Richtung zu rennen. Lillian spürte den Schmerz in ihren untrainierten Muskeln und wusste, dass sie es nicht mehr weit schaffen würde. Ihre bremsenden Schuhe schleuderten Dreck in das Loch vor ihr, doch trotzdem gelang ihr die Wendung.
Sofort riss sie den Kopf herum und blieb stehen. Sie taumelte rückwärts. Wenige Zentimeter vor ihr stand der Unbekannte in Schwarz und grinste. „Lillian, so schön, dich zu sehen! Komm her!“ Er nahm sie bei der Hand und verhinderte ihren drohenden Absturz in das Loch. Seine Hände waren eisig kalt und sein Griff fest. „Lillian ... Lillian ... Lillian“, sagte er und schüttelte grinsend den Kopf. „Weißt du, du machst es mir zu einfach. Du wachst morgens auf und das Erste, was du tust ...“ Er grinste sie schamlos an, als hätte er direkt neben ihr gestanden.
Lillian wollte ihre Hände losreißen, aber es gelang ihr nicht. Er hatte sie fest im Griff, und hinter ihr ging es einige Meter weit abwärts.
„Willst du etwa, dass ich dich loslasse?“, fragte er höhnisch.
„JA VERDAMMT UND VERSCHWINDE, DU VERRÜCKTER! GEH DORTHIN ZURÜCK, WO DU HERGEKOMMEN BIST“, schrie Lillian und versuchte sich aus seiner Umklammerung zu lösen.
Anstandslos ließ er sie frei. „Weißt du, Lillian, manchmal reicht es, nett zu fragen. Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas anzutun.“ Er lehnte sich nach vorne und blies Lillian seinen schwefeligen Atem ins Gesicht. „Noch nicht“, sagte er grinsend, zwinkerte ihr zu und lehnte sich wieder zurück. „Ich kann nicht dorthin zurück, wo ich hergekommen bin, aber wie wäre es, wenn du an meiner Stelle dort mal vorbeischaust?“
„Was?“, fragte Lillian. Nichts von dem, was er sagte, ergab für sie irgendeinen Sinn.
Der Unbekannte in Schwarz holte mit seiner rechten Hand aus und stieß Lillian in das Erdloch. Und während sie fiel, rief er ihr hinterher:
„Weißt du, es ist wirklich ein sehr schöner Perserteppich. Du solltest ihn dir einfach nehmen, meinst du nicht? Spencer hätte sicherlich nichts dagegen.“
Lillian stürzte rückwärts in das Loch und erwartete den schmerzhaften Aufprall. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Aber der Aufprall blieb aus und der Schmerz auch. Lillian öffnete ihre Augen und schaute nach oben. Sie befand sich nicht länger im freien Fall, nein, sie stand auf festem Boden. Und was war das dort oben? Das war nicht der Himmel. Waren das Stalaktiten?
Der Stadtpark war verschwunden. Lillian befand sich in einer Höhle. Ein kalter Wind pfiff ihr um den Hals und ließ sie frösteln. Der Geruch von Metall lag in der Luft. Nach allem, was sie wusste, gab es in Shuus keine unterirdischen Höhlen. Es könnte höchstens sein, dass sie durch den weichen Erdboden gesunken und in einen Hohlraum gefallen war. Aber wieso dann die sanfte Landung, ganz ohne Schmerzen oder ... Aufprall?
Der Metallgeruch wurde stärker und hinter einer Felswand flackerte ein Feuer auf. Flüssiger Stahl ergoss sich aus einem kleinen Vorsprung, rann den Stein hinunter und zwischen Lillians Füßen hindurch. Verdutzt blickte Lillian auf die Flüssigkeit. Ein nackter Mann schritt an ihr vorbei und lief auf die Felswand zu. In seiner rechten Hand hielt er einen Schädel, dem bereits ein paar Zähne fehlten. Auf der Stirn prangte ein großes Loch. Sie wollte ihm etwas zurufen, aber er schien sie gar nicht zu beachten.
Der nackte Mann drückte den Schädel in eine Furche an der Felswand. Es begann zu knirschen und zu knacken. Die Augen des Schädels fingen an zu glühen und die Felswand begann sich zu verformen und zu bewegen. Die Front bewegte sich zur Seite und gab einen Schlüssel preis.
Der nackte Mann schlug auf den Schädel und in der Höhle wurde es hell. Ein rotes Feuer erhellte das Dunkel, während überall ringsum kleine Flammen entfacht wurden. Die Temperatur schoss in die Höhe und Lillian trat der Schweiß auf die Stirn.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf einem Gitter stand. Eine Hand griff nach ihrem rechten Schuh und sie schrie auf.
„Ruhig. Die sind unter uns, sie können dir nichts anhaben“, sagte der Nackte vor ihr.
Читать дальше