Sophie schloss schnell mit Lillian Freundschaft. Alles, was ihr gefehlt hatte, war eine Freundin, mit der sie sich austauschen konnte, und schon lebte die Alte wieder auf. Während Lillian die Pläne für den neuen Blumenladen zeichnete, schaute sie gerne bei ihr vorbei, um ihr über die Schulter zu schauen. Bei den späteren Umbauarbeiten war Sophie auch mit dabei. Anfangs war sie nicht sonderlich begeistert zu sehen, wie die Arbeiter ihren geliebten Laden auseinanderrissen, bis nichts mehr übrig war als der Putz an den Wänden. Aber Lillian erklärte ihr, wie alles aussehen würde, und schon bald beruhigte sie sich wieder. Auch ließ sie sich von Lillian die Haare schneiden. Der graue Dutt mit den gelben Spitzen wich einem pfiffigen Kurzhaarschnitt mit schwarzen Strähnen. Und mit der neuen Frisur und Lillians Freundschaft kehrte auch Sophies Lebensfreude zurück.
Wenn sich einmal die Zeit bot und sich die kreative Muse zeigte, arbeitete Lillian eifrig an den Plänen ihres Traumhauses. Sie fügte ihrem Wohnzimmer den Orientteppich hinzu, den sie bei Spencer gesehen hatte, und vergrößerte das Schlafzimmer.
Frank hatte die übrigen Chamäleon-Blumensamen sicher in Einmachgläsern verstaut und im Keller eingelagert. Hin und wieder ging er hinunter und stand vor dem Regal. Alles, was er noch brauchte, war die nötige Anbaufläche und die finanziellen Mittel. Leider brauchte er weitaus mehr Geld, als seine Oma ihm vererbt hatte, und die Herstellung neuer Samen erforderte ein ganzes Labor, das er sich nicht leisten konnte. Aber so wie die Dinge gerade liefen, würde sich vielleicht auch das bald ändern.
Nach drei Wochen heißer Umbauphase und dank zuverlässiger Handwerker war alles fertig. Der Laden war komplett Weiß gefliest, hatte neue Frontscheiben, auf denen sich hinter blauem Plastikschutz der neue Name verbarg, und auch im Inneren stand alles bereit. Frank zog die letzten Schrauben fest, während Lillian Sekt in drei Gläser goss. Sophie war vorbeigekommen und soeben hatten sich die Möbelpacker verabschiedet, die eine neue Theke aus braunem Wahlnussholz angeliefert hatten.
„Mensch, das hast du aber super hinbekommen“, staunte Sophie, als sie den Laden betrat.
„Sophie!“, rief Lillian und kam auf sie zugestürzt. „Schön, dich zu sehen.“
Sie nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.
„Wir sind gerade fertig geworden.“
Frank kam unter der Theke hervor und klopfte sich den Staub aus der Hose. Sein übliches Outfit hatte der handwerklichen Arbeit weichen müssen. Die Fliege hatte er erst gar nicht angelegt und die Ärmel seines Hemdes waren nach oben gerempelt. Seine schwarzen Schuhe waren verziert von weißen Farbklecksen, denn er hatte darauf bestanden, den Laden samt Keller selber zu streichen, um ein wenig Geld zu sparen.
„Hallo Sophie“, sagte er und drückte sie freundschaftlich.
„Schön habt ihr ihn gemacht, meinen alten Laden. Ach, das ist er ja jetzt gar nicht mehr“, sagte sie und hielt sich die Hand vor den zitternden Mund. Sie sah sich um. Alles war so neu und anders. Wo vorher die Theke gestanden hatte, thronte jetzt eine Front aus Dekoartikeln und alles, was sie einst kannte und jeden Abend gehegt und gepflegt hatte, war verschwunden.
„Alles ist anders. Sarah ist weg, mein Laden ist weg“, sagte sie mit trauriger Stimme.
„Na na“, machte Frank, „du darfst so oft vorbeikommen, wie du möchtest. Dein Laden ist immer noch da, er hat sich nur ein klein wenig verändert.“
„Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, rufst du mich an, ja Sophie?“, sagte Lillian und nahm sie bei der Hand.
„Hach, ich bin froh, dass ihr hier seid. Shuus braucht ein wenig junges Blut. Für alte Weiber wie mich ist einfach kein Platz mehr.“
„So was will ich aber nicht hören, hast du verstanden? Wir sind noch ganz neu hier. Wer weiß, vielleicht kauft ja gar niemand bei uns ein und du musst den Laden wieder übernehmen“, sagte Frank.
Lillian wusste, dass er lediglich versuchte, sie aufzumuntern. Es waren schon mehrfach Kunden vorbeigekommen, die sich erkundigt hatten, wann der Laden endlich wieder öffnen würde. Heute Morgen hatte sie ein Banner aufgehängt und beim „Shuus Weekly“ eine halbe Seite für eine Werbeanzeige gekauft. Schon übermorgen würden sie den Laden wieder eröffnen.
„Du wirst uns doch nicht im Stich lassen, oder Sophie?“, fragte Frank.
„Nonsens“, entgegnete Sophie. „Es ist lieb, dass du einer alten Frau das Gefühl geben willst, gebraucht zu werden, aber der Laden ist inzwischen fertig umgebaut, euer Technik-Krimskrams scheint auch zu funktionieren. Es wird Zeit wieder zu eröffnen. Und für mich wird es Zeit, in den aktiven Ruhestand zu wechseln. Frank, morgen früh werde ich dir die Bogdanow-Brüder vorstellen. Ihr solltet euch endlich kennenlernen. Sie werden dir gefallen, aber nimm dich in Acht, die Jungs wirken auf den ersten Blick etwas ... schroff. Hast du noch den Sprinter?“
„Ja, er steht oben am Haus.“
„Sehr gut. Wir treffen uns morgen um halb drei hier am Laden, bring den Sprinter mit. Der Platz wird uns zugutekommen. Ich werde dich begleiten. Ein einziges Mal. Dann seid ihr auf euch alleine gestellt. Kommst du auch mit, Lillian?“
„Um halb drei morgens?“, sagte Lillian und nahm einen Schluck Sekt. „Danke, aber nein danke. Da bleib ich in meinem kuschligen Bett.“
Sophie grinste und griff Frank fast schon zu fest am Arm.
„Dann sind wir auf uns alleine gestellt. Halb drei“, wiederholte sie und zeigte ihm mit dem Finger ins Gesicht.
„Halb drei“, bestätigte Frank.
Sophie rückte die Blümchen verzierte Handtasche an ihrem Ellenbogen zurecht. „Lillian, sei ein Schatz und reich mir ein Glas.“
Lillian, die inzwischen alle drei Gläser leer getrunken hatte, reichte ihr eins und schenkte Sekt nach.
„Danke“, sagte Sophie und setzte das Glas an ihre Lippen. Sie zog den Inhalt in drei großen Schlucken hinunter und warf Frank das leere Glas zu.
„Halb drei!“, wiederholte sie, als sie Richtung Ausgang lief, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dann drehte sie sich um: „Oder jemand Schlimmeres.“
Frank hielt das Glas fest umklammert und Lillian stand neben ihm mit der Sektflasche in der Hand. Beide sagten kein Wort. Sophie öffnete die Tür des Ladens und lachte einmal laut auf, bevor sie in die Dunkelheit der Nacht verschwand.
Zu unbekannter Uhrzeit wurde Frank plötzlich geweckt. Etwas schlug ihm mitten ins Gesicht und jagte einen dumpfen Schmerz durch sein Gesicht. Etwas verweilte für einen Moment und glitt dann an seinem Hals hinab, bis es endlich liegen blieb. Jetzt klingelte auch noch sein Wecker. Es war zwei Uhr morgens und an der Zeit aufzustehen, um sich für den ersten Tag am Großmarkt zu wappnen. Vorsichtig nahm er Lillians Fuß von seiner Brust und legte ihn zur Seite. Er setzte sich langsam auf und sah, dass Lillian sich mal wieder im Schlaf um die eigene Achse gedreht hatte. Eine Angewohnheit, die sie schon seit jeher mit sich trug. Sie bewegte sich die ganze Nacht durchs Bett, völlig egal, wo und was sie dabei anrempelte. Sei es der Nachttisch oder sein Schritt. Nichts war sicher. Aber das war nun mal der Preis dafür, dass er sich das Bett mit einer nach Lavendel duftenden Schönheit wie Lillian teilen durfte. Den Lavendelduft schenkte er ihr jedes Jahr zum Geburtstag, die Schönheit kam ganz von alleine.
Widerwillig schob er die Decke beiseite und verließ das Bett. Auf Autopilot duschte und rasierte er sich. Müde und noch benommen vom Schlaf tapste er zum Kleiderschrank und griff wahllos hinein. Wie könnte es auch anders sein, traf er die richtige Auswahl: schwarze Schuhe, eine schwarze Hose mit einem Hemd und einem Pulli, den er überzog. Er wählte eine Fliege passend zum Hemd und legte sie um.
Lillian schnarchte friedlich in ihrem pink-lila gestreiften Pyjama vor sich hin, als sich Frank zu ihr hinabkniete.
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