Lillian warf noch einen letzten Blick auf den Orientteppich und lief Richtung Ausgang. Am Eingang fiel ihr ein Wurm auf, der versuchte, ins Haus zu kriechen. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass es nicht nur der eine war, sondern eine ganze Straße aus Würmern, die zum Großteil verendet waren. Vorsichtig lief sie um das Ungeziefer herum und ging ins Freie. Ihr Blick war immer noch nach unten gerichtet. Alles war voller Würmer, die aus dem Erdreich gekrochen kamen. Sobald sie die Oberfläche erreicht hatten, kippte einer nach dem anderen um und begann in der heißen Mittagssonne zu rösten. Die Hitze verdampfte alle Flüssigkeit aus den schleimigen Kreaturen, bis nur noch ihr vertrockneter Kadaver übrig war. Lillian hielt sich die Nase zu, denn die Luft war erfüllt von verbranntem Fleisch. Es roch nach Tod. Endlich blickte Lillian wieder auf.
Sie erschrak.
Gegen die Schiebetür des Sprinters lehnte ein in schwarz gekleideter Unbekannter mit einer Sonnenbrille.
„Hey Lillian“, sagte er lässig und lehnte sich mit einem Bein gegen den Wagen. „Es ist noch zu früh für unseren Tanz, aber wenn du so weitermachst wie bisher, wird es nicht mehr lange dauern. Alle sind bisher höchst zufrieden mit dir. Halte dich nicht zurück, sag, was immer dir in den Kopf kommt, und tu, wonach immer dir ist. Verstanden?“
„Wer bist du?“, fragte Lillian und hielt sich rückwärtsgehend am Türrahmen fest.
„Ich? Ich bin niemand. Ich bin unwichtig. Ich bin lediglich hier, um zu überwachen und zu motivieren. Und wenn es so weit ist, werde ich dich beim Tanzen führen. Machs gut, kleiner Sünder“, sagte er und winkte ihr zu. Was von den Würmern noch übrig war, ging in Flammen auf. Die noch lebendigen Würmer begannen, sich unter Todesqualen zu winden. Sie fiepten, als würde man ihre kleinen Körper bis zum Rande mit Schmerz füllen. Dann zerplatzten sie wie Popcorn und ließen kaum mehr als einen kleinen Blutfleck zurück. Immer neue Würmer krochen aus der Erde und verendeten unter Qual. Kreischten auf, zerplatzten.
Lillian schrie auf und wich weiter zurück, bis sie auf Widerstand prallte.
„Hey, Lilly, ganz ruhig“, sagte Frank hinter ihr.
„Oh Frank“, sagte sie und nahm ihn verängstigt in den Arm.
„Was ist denn in dich gefahren? Sonst bin ich es doch, der getröstet werden muss.“
Er streichelte ihren Rücken und küsste ihre Stirn. Und wie Lillian so in seinen Armen lag, wusste sie, dass sie jetzt genau zwei Möglichkeiten hatte. Sie konnten den bisher angenehmen Tag mit dem, was gerade passiert war, beenden und alles erzählen. Oder sie könnte lügen. Sie blickte aus seinen Armen zu ihm auf.
„Ich habe einen Wurm gesehen und bin erschrocken“, sagte sie mit gespielter Gelassenheit. Aber Frank war misstrauisch, er kannte sie zu gut.
„Ein Wurm? Ein Wurm hat dich erschreckt?“
Er konnte in ihren Augen erkennen, dass sie nichts mehr wollte, als dass er ihr glaubte und es dabei beruhen ließ.
„Wo ist dieser Wurm jetzt?“, fragte er. „Niemand erschreckt ungestraft mein Mädchen und kriecht einfach so davon.“
Er riss sie beschützend an sich und blickte über ihren Kopf hinweg. Lillian lachte auf, es hatte funktioniert. Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.
„Jetzt will ich endlich was essen. Ich bin halb verhungert. Und danach gehen wir Ghostbusters anschauen. Einverstanden?“
„Bist du sicher, dass dieses Würmchen einfach so davonkommen soll?“, fragte Frank ernst.
„Lass gut sein, mein Held. Das wird’s wohl gewesen sein.“
„Na gut, aber wenn es wieder auftaucht, gibst du mir Bescheid. Und jetzt: futtern! Und dann: Kino. Los geht’s!“
Er rannte Richtung Sprinter davon und Lillian folgte ihm. Ihr Blick huschte immer wieder über den Boden, aber es war nichts mehr zu sehen. Die Würmer waren verschwunden und der Unbekannte in Schwarz schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Was war gerade eben geschehen? Alles erschien so real. Der widerliche Geruch der Würmer klebte ihr noch immer in der Nase. Nachdenklich fuhr sie sich mit ihrer Zunge durch den Mund und bemerkte, wie trocken er war. Hatte sie heute überhaupt etwas getrunken? Das musste es gewesen sein. Ihr Hirn war von der Anstrengung des Tages ausgetrocknet worden und wollte ihr klarmachen, dass es Flüssigkeit brauchte. Es war zu einem vertrockneten Schwamm zusammengerunzelt und kullerte in ihrem Kopf hin und her. Dabei hatte sich der Teil mit ihrer Vorstellungskraft angestoßen und verrückt gespielt. Sie hatte noch nie zuvor Wahnvorstellungen gehabt. Das muss es sein. Sie war dehydriert.
„Frank“, sagte sie, „ich glaub, ich bin durstig ...“
„Bestell dir so viel du nur möchtest, Lilly, es wird Zeit, dass wir ein klein wenig feiern.“
Sie öffnete die Tür des Sprinters, und als Lillian einstieg, fiel ein einziger kleiner Wurm auf den Kies und zerplatzte. Doch davon bekam Lillian nichts mehr mit.
6
In den nächsten vier Wochen waren Frank und Lillian vollauf beschäftigt. Mit kleinen Schritten begannen sie, sich ihr Leben in Shuus einzurichten und sich mit allem Ungewohnten vertraut zu machen. Sie entfernten die weißen Laken von den Möbeln in ihrem Haus und sortierten aus. Auch wenn sich viele schöne Stücke darunter befanden, waren es doch die Gebrauchsgegenstände anderer Leute und ganz besonders Lillian wollte ihre eigenen Sachen. Sie schafften diverse Möbel in den Keller und ersetzten die Bilder von Basil und Sarah Wilkee durch ihre eigenen. In der nächsten größeren Stadt kauften sie eine neue Matratze für ihr Bett und verschiedene Pflanzen und Erde für ihren Garten. Frank lag viel daran, sich der Grünfläche alsbald anzunehmen. Der Rasen musste geschnitten und das Unkraut gejätet werden, und auch eine Chamäleon-Blume wollte er pflanzen, in der Hoffnung, für sie bald Verwendung zu haben. Frank hatte vor, eine Hecke zu setzen, um den Garten abzugrenzen. Denn mit dem neuen Haus kamen auch neue Nachbarn: Karla und Randy Putz. Ein aufgewecktes Pärchen Mitte fünfzig, das ununterbrochen schwatzte. Wenn sie sich nicht lauthals über alles von Brotlaib bis Zipfelmütze unterhielten, führten sie ihre drei Hunde durch Shuus und räumten hinter ihnen her. Nach und nach wurden im Haus der Telefonanschluss, das Wasser und das Internet wieder angestellt. Auch ihre Schulden waren dank des Erbes schnell abbezahlt.
Sophie hatte ihnen versichert, dass ihr Laden der umsatzstärkste in ganz Shuus sei. Kundschaft kam von überall her, um bei ihr einzukaufen. Ein derart großes Kundeneinzugsgebiet war Gold wert. Gemeinsam unterzeichneten sie den Kaufvertrag für den Blumenladen und Lillian begann mit den Zeichnungen für den Umbau. Der Laden war Anfang der Sechziger erbaut worden und Lillian hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu modernisieren. Die Schaufenster sollten größer und die Auslage prominenter präsentiert werden. Der Fußboden des Ladens war bedeckt von moosgrünen Fliesen, auf denen ockerfarbene Regale standen. Alles musste weichen. Weiß und modern sollte es werden mit einer schicken Touchscreen-Kasse und einem Onlinevertriebssystem, bei dem Kunden ihre eigenen Sträuße aus einem Baukasten zusammenstellen konnten. So was kostete natürlich Geld und so steckten Lillian und Frank den Rest ihrer Ersparnisse in den Umbau.
Der Besuch bei Suchoong’s, Shuus einzigem chinesischen Restaurant, wurde genauso zur Routine wie der anschließende Kinobesuch. Einmal in der Woche entspannte das junge Paar bei einem Date und ließ den Lärm und Stress des Umbaus hinter sich, um es sich schmecken zu lassen und im Kino zu schmusen, während Miles O’Keeffe auf der Leinwand durch die Wüste ritt. Hin und wieder, wenn sie allein waren, verschwand Franks Zunge für ein paar Minuten zwischen Lillians Beinen.
Eine Routine, die in ihrer Beziehung zu einer Art Tradition geworden war, auf die Lillian bestand und der Frank sehr gerne nachkam. Er liebte es, ihre Wärme an der Spitze seiner Zunge zu spüren und sie zu schmecken. Lillian revanchierte sich nur selten, was Frank nicht im Geringsten störte. Ganz im Gegenteil. Wenn sie sich am Höhepunkt aufbäumte und er sie mit seiner freien Hand sanft in den Kinosessel presste, war ihm das schon genug. Und bei einem kurzen Moment mit sich alleine hatte er genügend Bilder vor Augen, um auf seine Kosten zu kommen. Der eigentliche Film spielte manchmal gar keine Rolle, sie genossen das Abendessen und Lillian ließ sich von Frank verwöhnen.
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