1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Ein Stöhnen war aus der Beerdigungsgesellschaft zu hören, und eine aus der Mode gekommene Brille wurde genervt zurechtgerückt. Der spanische Anwalt hastete zum Pult, zog einen Stapel Papiere aus seinem Jackett und schlug sie zweimal gegen das Pult, als wäre es von äußerster Wichtigkeit, dass sie genau übereinanderlagen, bevor er sie vor sich ausbreitete.
„Im Namen der gesamten Gemeinde möchte ich Sie ...“, er suchte hastig in seinen Unterlagen nach zwei Namen, „Frank und Lillian Wilkee bei uns in Shuus begrüßen. Im Angesicht
ihrer Verspätung möchte ich mich kurzfassen. Frau Sarah Wasserstein-Wilkee hinterlässt Ihnen und Ihnen alleine ihr Privatvermögen in sechsstelliger Höhe, ihr Haus sowie ihren Anteil am Blumenladen. Bitte sprechen Sie mich nachher kurz an und ich werde Ihnen alles Nötige übergeben.“
Er steckte die Papiere zurück in sein Jackett und sprach weiter: „Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, auch noch ein paar Worte über Sarah zu verlieren. Sarah war ...“
„Jetzt reicht es“, brummte der alte Mann mit der Brille. Er stand auf und schob alle beiseite, bis er den mittleren Gang erreicht hatte. Langsam, aber stetig und mit der Hilfe eines Gehstocks lief er auf den Anwalt zu. Ein Raunen ging durch die Menge.
„Ach du je“, sagte Frank.
„Was denn? Wer ist das?“
Der alte Mann hatte den Anwalt jetzt fast erreicht. Er blieb stehen, um ihn mit einem genervten Blick abzustrafen.
„Verpiss dich, Rudi, den Leuten tut schon der Arsch weh. Ich muss es wissen, denn meiner tut weh und er ist älter als jeder Arsch hier drin.“
„Aber ich ...“, wandte Rudolpho ein. Doch der alte Mann signalisierte ihm mit seinem Gehstock den sofortigen Abgang. Rudolpho gab auf und setzte sich zurück an seinen Platz. Der alte Mann lief an der vordersten Reihe vorbei, griff sich einen Stuhl und schleifte ihn unter lautem Knarren direkt in die Mitte der Kirche. Das Geräusch hallte für kurze Zeit unangenehm durch die große Halle. Er setzte sich auf den Stuhl und legte beide Hände auf den Gehstock.
„Was nicht heißen soll, dass ich nicht lieber sitze als stehe.“
„Frank ...“, bohrte Lillian erneut nach. Das Raunen der Menge hatte sich in Getuschel verwandelt, das immer lauter wurde.
„Ich denke, ich muss mich nicht vorstellen. Mein Name ist ...“
„FRANK ...“, sagte Lillian laut, aber er reagierte nicht.
„Basil Wilkee“, sagte der alte Mann und stampfte mit seinem Gehstock auf.
„Mein Opa. Der alte Gauner ist also tatsächlich noch am Leben. Irre!“
„Wir wissen alle, was für eine gute Seele Sarah war und jetzt ist sie tot. Also lassen wir es dabei bleiben und Gott einen guten Herrn sein, einverstanden?“ Basils Blick richtete sich auf Pfarrer Glenn, der dem Geschehen mit verschränkten Armen stumm beiwohnte.
„Einige von euch haben sich in letzter Zeit das Maul zerrissen. Es hieß, ich wäre einfach abgehauen. Hätte Sarah verlassen. Pah! Wer gemeinsam das durchgemacht hat, was wir durchgemacht haben, trennt sich nicht einfach. Sie wollte reisen und ich wollte bleiben, also habe ich sie gehen lassen. Sie hat sich ihren Traum erfüllt und das war auch gut so. Allen Anwesenden, die drohen, an ihrer Neugier zu ersticken, sei gesagt: Ich lebe seit geraumer Zeit zusammen mit Spencer Flal auf seinem alten Hof. Spencer hat die Lücke in meinem Leben gefüllt, die Sarah bei ihrem Reiseantritt hinterlassen hat. Denkt, was ihr wollt, es ist mir egal, denn wir sind glücklich. Spencer hat für euch mehrere Speisen im Gemeindesaal vorbereitet, geht, esst. Und macht, was ihr am besten könnt: Zerreißt euch das Maul und steht dumm in der Gegend herum. So, das war’s, jetzt will ich in Ruhe mit meinem Enkel reden. Frank, mein Junge, wo bist du?“
„Hier Opa!“, rief Frank und winkte seinem Großvater zu.
Basil erhob sich aus seinem Stuhl und ging laut schnaufend auf Frank zu. Diese Ansprache hatte ihn doch etwas mehr mitgenommen, als er erwartet hatte. Die Beerdigungsgesellschaft erhob sich und ging fast geschlossen Richtung Gemeindesaal.
„Frank, mein Junge, gut, dich endlich wiederzusehen“, sagte Basil und nahm seinen Enkel in den Arm.
„Es ist auch schön, dich wiederzusehen.“
„Ist es das, ja?“, fragte Basil und verpasste Frank eine Ohrfeige. „Das ist dafür, dass du mich nie besucht hast. Nicht mal ein einziger Anruf übers Jahr? Ist dir dein alter Opa denn nicht mehr wert?“ Er verpasste ihm die nächste Ohrfeige. „Und das ist dafür, dass du zu spät zur Beerdigung deiner Großmutter gekommen bist.“
Frank hielt sich die schmerzende Backe, während sich sein Opa Lillian zuwandte. Seine Stimmung änderte sich schlagartig und er begrüßte sie freundlich: „Und du musst Lillian sein, habe ich recht?“
„Genau“
„Es freut mich, dich kennenzulernen. Frank hat mir vor Jahren von eurer Hochzeit erzählt. Die Ehre hatte ich natürlich nicht“, sagte er in scharfem Ton zu seinem Enkel. „Ihr müsst mich entschuldigen. Es war ein anstrengender Tag und ich habe genug für heute. Mit 99 Jahren verbraucht sich die Kraft schneller, als es einem lieb ist. Lasst euch von Rudi den Schlüssel für das Haus geben, in gewisser Weise ist es mein handwerkliches Lebenswerk. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, dass Sarah noch Geld hatte. Auch damit wünsche ich euch viel Vergnügen. Ich werde mich jetzt zurückziehen. Wenn ihr euch ein klein wenig eingelebt habt, kommt doch später zum Kaffee vorbei, wann immer es euch passt. Dann besprechen wir alles Weitere.
„Gerne, Opa, bitte entschuldige, Opa. Mit dem Studium und allem ... ich hab oft an dich gedacht. Ehrlich!“, log Frank.
Basil Wilkee überhörte den Kommentar, als ob eine Lüge sein Trommelfell überhaupt nicht erreichen könnte.
„Und tu mir einen Gefallen, Junge, putz dir vorher die Zähne, ja? Dein Atmen riecht nach Muschi.“
Lillian blickte halb grinsend und halb beschämt Richtung Boden. Basil holte tief Luft und atmete langsam aus. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Und jetzt ging er und ließ die beiden stehen.
„Er ist gut in Schuss für sein Alter“, sagte Lillian, „und wie es aussieht, ist er mit fast hundert Jahren noch kurz schwul geworden.“
„Jub. Das ist Opa“, sagte Frank und schaute seinem Großvater hinterher. „Keine Angst zu tun, wonach ihm der Sinn steht, und keine Hemmungen, seine ehrliche Meinung zu sagen.“
„Ein Haus“, sagte Lilly und begann zu strahlen, „ein Haus! Und Geld. Ein sechsstelliger Betrag!“
Sie fiel Frank in die Arme und küsste ihn.
„Jetzt geht es mächtig bergauf, willing Lilly.“
„Aber so was von, friendly Franky.“
5
„Unglaublich“, sagte Frank und bestaunte das Schlafzimmer. Das Bett war echte Handarbeit. Es schien im ganzen Raum nichts zu geben, was nicht aus Holz und von Hand gefertigt worden war. Die Nachttische, Stühle und sogar eine Lampe an der lediglich die Fassung aus Metall war. Lillian erkundete gerade den Kleiderschrank.
„Er muss das Haus renoviert haben, für den Fall, dass sie jemals zurückkommt. Es muss ihn Hunderte von Stunden gekostet haben, das alles herzustellen.“
Das Haus war für seine beschauliche Größe überraschend geräumig. Im Inneren verbargen sich ein großes Wohnzimmer mit offener Küche, ein Schlafzimmer und ein großes Badezimmer samt Wanne. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Garten und nebenan stand ein Haus, das scheinbar zur gleichen Zeit erbaut worden war, denn es sah von außen exakt gleich aus.
„Es ist großartig“, verkündete Lillian, „unser eigenes kleines Haus. Wollen wir gleich zu deinem Opa? Ich könnte einen kleinen Imbiss vertragen. Erst recht, nachdem wir nach der Beerdigung nichts abbekommen haben.“
Frank starrte immer noch das Bett an. Er konnte sein Glück kaum fassen. Gestern hatte er noch in einem verkümmerten Blumenladen mit Mindestlohn gearbeitet und hatte einen negativen Kontostand und heute waren sie beide Besitzer eines Eigenheims und eines beachtlichen kleinen Vermögens.
Читать дальше