Das Gesicht eines alten Mannes starrte Lillian durch das Gitter an. Sein Körper war überzogen von klaffenden Wunden, aus denen Eiter quoll. Am Rand seines Mundes klebte getrocknetes Blut und mindestens zwei seiner Rippen ragten aus seinem mit grünem Schimmel überzogenen Brustkorb hervor. Der Alte öffnete den Mund und Lillian erwartete, dass er sie um Hilfe bitten würde. Doch er hatte keine Zunge. Nur einen abgeschnittenen Lappen, der in seinem Rachen hing. Sein Zahnfleisch war blutig und mehrere Zähne waren miteinander verschmolzen. Er schwitzte noch schlimmer als sie.
„Was ist mit ihm passiert?“, fragte sie wie in Trance.
„Was glaubst du, ist mit ihm passiert?“, gab der Nackte zurück.
„Hat man ihn gefoltert?“
„Nein, man hat ihn bestraft. Und seine Bestrafung ist noch lange nicht abgeschlossen.“
Lillian erstarrte. Sie versuchte sich vergeblich, zu rühren. Es war, als hätte die Hitze sie mit dem Gitter verschmolzen, doch als sie herabblickte, erkannte sie, dass der Alte sie festhielt. Lillian wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie konnte nicht vom Fleck, hatte keine Ahnung, wo sie war. Also suchte sie das Gespräch.
„Du bist nicht der Mann, den ich zuvor gesehen habe, richtig?“
„Das stimmt, ich bin ... wichtiger.“
„Was bist du?“
„Ich bin ... der Schlüssel für jedes Schloss. Schon bald wirst du mir helfen, eines der wichtigsten Schlösser überhaupt zu öffnen.“
„Ich? Wie?“
„Du und ich, wir werden eine Verbindung eingehen. Hab keine Angst. Oder hab all die Angst, die in dich hineinpasst, was immer du bevorzugst.“
„Welches Schloss? Was für eine Verbindung? Wo bin ich?“
Sie versuchte, sich vom Griff des alten Mannes zu befreien. Es gelang ihr, einen Fuß zu heben. Sofort schoss eine weitere Person aus dem rotschwarzen Abgrund hinter dem alten Mann hervor und griff nach ihrem freien Fuß. Es war eine Frau. Eines ihrer Augen hing aus der Höhle und an ihrer rechten Hand fehlten zwei Finger. Sie umklammerte Lillians Fuß und hielt sie fest.
„Der Schlüssel für uns liegt in zwei ... Punkten. Sex und Gewalt. Sag an, Lillian Wilkee, was weißt du über Gewalt?“
Lillian gab keine Antwort.
„Mach dir keine Sorgen. Er wird dich führen.“
„Wobei?“ Lillian schlug auf die Hände ein, die sie festhielten, und schaffte es endlich, sich zu befreien. Sie spurtete auf den nackten Mann zu, entschlossen, sich ein paar Antworten zu holen. „Wo bin ich hier? Und wer bist du? Ich will wissen, was ihr los ist oder ich ...“
Der nackte Mann hob erneut die Hand. Haken schossen unter dem Gitter hervor und bohrten sich durch Lillians Füße. Augenblicklich schoss Blut aus der Wunde und Lillian schrie auf. Sie wollte sich den schmerzenden Fuß halten, aber da schoss eine zweite Kette hinter ihr aus der Dunkelheit und hakte sich in ihre Hand ein. Die Kette straffte sich und Lillian wurde gerade nach oben gerissen. Zwei weitere Ketten schossen hervor. Die eine bohrte sich durch ihre Handfläche und die andere durch ihren Rachen. Alle Ketten spannten sich an und Lillian stand kerzengerade da. Blut strömte aus den Wunden und ein Wimmern kroch aus ihrem Mund.
„Genug“, sagte der nackte Mann, „Du solltest eigentlich gar nicht hier sein. Ich werde ihn bestrafen müssen ...“ In der Felswand vor ihm zeichnete sich ein Gesicht ab. Ein Mann, dessen Mund von einem Bart eingerahmt wurde. Der Nackte streichelte das Steingesicht. „Bald wirst auch du zu tun bekommen“, sagte er. „Der Mann, der seinen Meister getötet und mir so eine Botschaft geschickt hat. Ich stehe tief in deiner Schuld, Richard. Aber in welcher Schuld kann ich schon bei einem Menschen stehen?“, er drehte den Kopf und bemerkte Lillian, die immer noch hinter ihm stand.
Der nackte Mann schnippte mit den Fingern und die Ketten rissen Lillian in drei Richtungen. Ihr rechtes Bein riss am Knie auseinander und fiel zu Boden. Ihre Hand verschwand mit der Kette in die Dunkelheit. Blut spritzte in einer Fontäne aus ihrem Armstumpf und das Letzte, was sie spürte, war ein pochender Schmerz. Der nackte Mann drehte sich zu ihr um, doch bevor sie sein Gesicht erkennen konnte, riss ihr die Kette im Rachen den Kopf von der Schulter.
Doch der pochende Schmerz blieb.
Pfarrer Glenn Clark hörte auf zu graben. Seit heute Morgen um sechs war er im Park zugange. Er verbrachte viel Zeit mit der Pflege der Anlage, denn sie war sein Ein und Alles. In Shuus was es allgemein bekannt, dass er die Kollekte dafür verwendete, den Park auszubauen und zu verschönern. Heute Morgen wollte er die neuen Teichgruben ausheben. Er hatte die Plastikwannen für die Teiche gestern noch erhalten und wollte heute zumindest eine davon einsetzen. Die erste Grube hatte er verbockt. Sie war zu tief geworden. Er hatte den steinigen Boden unter dem Wald freigelegt und jetzt ragte eine Felsspitze daraus empor. Anstatt das Loch zuzuschaufeln, hatte er einfach wenige Meter daneben ein neues gegraben.
Erschöpft rammte er den Spaten in die Erde, stieg aus der zweiten Grube und stampfte sich den Dreck von den Schuhen.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang zu ihm hinüber. Glenn machte einen Schritt zur Seite und sah Lillian. Sie lag auf dem felsigen Boden und hielt sich den blutigen Kopf. Er hatte sie, ganz in die eigenen Gedanken vertieft, gar nicht wahrgenommen. „Frau Wilkee?“, sagte er und sprang in das Loch. „Ist alles in Ordnung?“
„Nein, mein Kopf ... und bitte sagen Sie nicht Frau Wilkee zu mir. Ich bin Lillian. Da komm ich mir vor wie ...“
Lillians Augen stellten langsam wieder scharf, und sie sah den Pfarrer, der eine Soutane trug, die er geschickt für den Sommer modifiziert hatte.
Pfarrer Glenn half Lillian auf die Beine.
„Geht es?“
„Ich glaube schon“, sagte Lillian und hielt sich den Kopf.
Er half ihr aus dem Loch und unterzog sie eines kritischen Blicks.
„Sie sind Lillian Wilkee. Sie haben uns bei Sarah Wilkees Beerdigung fast eine Stunde warten lassen.“
„Ja“, gestand Lillian und bemerkte das Blut an ihrer Hand. „Tut mir echt leid, wir waren ... verhindert.“
„Natürlich“, sagte Glenn ernst. „Wie bist du in das Loch gestürzt? Nicht aufgepasst?“
„Ich ... Ich werde verfolgt.“
„Von wem?“
„Von Tieren und Ungeziefer, das vor meinen Augen leidet und dann explodiert. Und gerade hatte ich entweder einen Traum oder bin für einen kurzen Trip zur Hölle gefahren.“
„Wow“, machte Vater Glenn, „soll ich dir einen Krankenwagen rufen? Könnte aber etwas dauern.“
„Nein, es geht schon“, sagte Lillian und tastet vorsichtig ihre Stirn ab.
Glenn schmunzelte. Dann schaute er sich das Loch genau an. An der Felsspitze war ein kleiner Blutfleck. „Das muss doch scheußlich schmerzen. Ich hab genau das Richtige für dich. Komm, setze dich zu mir.“
Vater Glenn setzte sich an den Rand des Lochs und Lillian nahm neben ihm Platz.
„In einem Fall wie diesem“, sagte er und griff hinter sein Ohr, „ist es wichtig, Ruhe zu bewahren.“ Spielerisch knetete er die spitz geformte Tüte in seinen Fingern und steckte sich den Joints in den Mund. Unter seiner Soutane zog er ein metallenes Kreuz hervor, an dem Jesus prangte. Er klappte den Kopf des Erlösers nach hinten und gab dem Joint Feuer. Vater Glenn inhalierte tief und hielt dann inne.
Lillian war fassungslos.
„Ein kiffender Pfarrer?“, sagte sie entsetzt.
„Natürlich, Gott hat alles erschaffen. Auch Marihuana. Ich genieße gerne alle von Gottes Gaben, hier, nimm.“ Er reichte ihr den Joint. „Tief einatmen. Dann geht’s der Stirn gleich besser.“
Lillian folgte und inhalierte. „Gibt es zwischen uns so etwas wie eine Schweigepflicht? Du weißt schon, bleibt, was ich sage, unter uns?“
„Klar. Versprochen“, sagte Glenn und lehnte sich auf seinen Ellenbogen zurück.
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