Während Großmutter ihren Arm um meine Schultern legte, als fürchtete sie, ich begänne zu frieren, begriff ich, dass nicht mehr Edit neben mir saß.
„Bloß gut“, hörte ich sie sagen, „dass wir’s bis unter die Brücke geschafft haben.“ Ich spürte, wie sie beim nächsten Blitz erschrak und merklich aufatmete, als der Donner nicht gleich folgte. „Vor langer, langer Zeit“, fuhr sie leise fort, wie wenn sie nur mit sich spräche, „hatte ich ähnliches Glück. Es war, als ich Eva, mein Geschwisterkind“ – sie gebrauchte, ich erinnere mich genau, noch die alte Bezeichnung für Cousine - „in Budapest besuchte. Ich hab dir“, fragte sie, ein wenig lauter werdend, „doch davon erzählt?“
„Hast du“, bestätigte ich und meinte, an jenem sonnigen Septembertag erstmals gemeinsam die Landeskrone erklettert, wieder mit ihr unweit des Aussichtsturms auf der versteckten Bank zu sitzen, von der wir die aus dunkelroten Klinkern errichtete Kirche, das Rathaus, den Bahnhof, wo wir mit unsren Bündeln aus dem Aufnahmelager angekommen waren, und die Waggonbaufabrik, in der Vater seit Wochen arbeitete, erkennen konnten.
„Das Gewitter“, redete sie weiter, „überraschte uns, als wir zu Fuß von Pest nach Ofen wollten. Weil Eva sich auskannte, fanden wir ebenfalls, ohne nass zu werden, einen Unterschlupf. Er glich unsrem, war nur viel breiter und höher; denn wir standen inmitten einer Gruppe von Leuten unter der gewaltigen Kettenbrücke.“ Geschützt habe die allerdings nur vor dem heftigen Regen. Der Wind, fast ein Sturm, sei wütend über alles und jeden hinweggefegt, immer wieder durchzuckt von Blitzen, die, wie sie gemeint habe, im aufgewühlten, mit weißem Gischt überflockten, Strom verglüht seien.
„Als es nur noch nieselte, flaute auch der Wind ab. Von der Brücke, die wir über eine steile Treppe erreichten, entdeckte ich einen so gewaltigen Regenbogen, wie ich ihn weder vorher noch nachher gesehen habe. Er streckte sich, so weit der Blick reichte, über die Stadt, schimmerte, schien mir, in zahllosen, aufs Feinste abgestuften, Farben, verbreitete ein unbeschreibliches Licht und ließ die Gebäude, von denen sich der graue Dunst löste, märchenhaft leuchten.“ Besonders das Parlament mit seinen zahlreichen Bögen, Statuen und unterschiedlichen, weithin sichtbaren, Türmen habe sie dadurch noch viel schöner gedünkt, als es schon in Wirklichkeit sei.
„So ist es mir bis heute im Gedächtnis geblieben“, sagte sie wesentlich später, als sie wahrscheinlich meinte, ich wäre alt genug, um ihre folgende Äußerung zu verstehen, „und ich glaubte lange“, fuhr sie fort, „dass in einem so wunderbaren Gebäude nur kluge, weitsichtige und gerechte Menschen tätig sein müssten, die das Beste für alle Bürger wollten. Doch seit wir, ohne schuldig zu sein, wie lästige Störenfriede mit ein paar armseligen Bündeln von Haus und Hof verjagt worden sind, weiß ich, dass ich einem törichten Irrtum erlegen bin, weil wohl keiner der Verantwortlichen bereit gewesen ist, sich einzugestehen, was unsre Vorfahren und wir mit Fleiß, Umsicht und Findigkeit für das Land geleistet haben.“
Während Carola, das Badetuch um ihren noch nassen Körper geschlungen, hinter mich tritt, verflüchtigt sich alles, was ich zu sehen geglaubt habe, so rasch, wie es aufgetaucht ist. Nur das Parlament sowie die Fischerbastei, im prallen Sonnenlicht scharf umrissen, nehme ich wahr, und dazwischen die Kettenbrücke, über die wir ganz sicher mal gehen werden, obwohl es, da im Krieg alle Übergänge zerstört wurden, nicht mehr dieselbe ist, von der Großmutter den riesigen Regenbogen erblickt hat. Der war mir, als sie ihn während des Gewitters, neben dem rissigen Brückenpfeiler nahe an mich gerückt, eindrucksvoll schilderte, so wundersam erschienen wie manche Geschichten, die sie mir einst in Vaskút erzählt hatte.
Als wir nach dem Frühstück, das wie vor einem Jahr reichlich, aber immer noch einfallslos ist, durch den nahen Park in Richtung Moszkva tér schlendern, tröpfelt erneut Nässe aus den Baumkronen, und von den Zweigen, die im leichten Wind zittern, trudeln welke, vergilbte Blätter herab. Aber sobald wir den großen, runden Platz erreichen, sehen wir, dass die Bänke, auf denen, mit Folie oder Zeitungen zugedeckt, Stadtstreicher gelegen hatten, leer sind, und wir werden auch in den nächsten Tagen keinen der meist bärtigen, verwahrlosten Männer, die alles, was sie besitzen, in Plastikbeuteln mit sich führen, entdecken. Haben sie sich zurückgezogen wie die Taxifahrer, die sich früher nach der Ankunft von Fernzügen auf den Bahnsteigen zwischen die Reisenden drängelten und beredt ihre Dienste anboten? Oder wie die dunkeläugigen, schwarzhaarigen, ärmlich gekleideten Mütter, die in muffigen Unterführungen auf schmutzigen, kalten Treppenstufen saßen, ihre müden, ergebenen Kleinkinder im Arm hielten und aufdringlich bettelten? Gibt es inzwischen Verbote, die verhindern sollen, dass sich Besucher wie wir belästigt fühlen? Solche Vorschriften würden, denke ich, nur ein scheinbar freundlicheres Bild vermitteln; denn für die Betroffenen dürfte es, ihrer vorher genutzten Möglichkeiten beraubt, noch wesentlich schwieriger sein, sich durchzuschlagen.
Ich wundere mich, dass ich, als wir den tags meist stark belebten Moszkva tér erreichen, noch immer darüber nachsinne. Ist es, weil wir in Görlitz anfangs ebenfalls arm waren, es in dem einen zugewiesenen Zimmer, wo wir auf unsren Bündeln schliefen, keinen Schrank, keinen Tisch, keinen Stuhl, keinen Spiegel, keinen Teppich gab?
Im Durchgang zur Metro sind wir gezwungen, uns in eine Schlange einzureihen. Weit genug vorgerückt, erkennen wir, dass jeder seinen Fahrschein zeigen oder bezahlen muss. In den nächsten Tagen wird es, wenn wir zur Bahn wollen, immer aufs Neue die gleichen Kontrollen geben. Obwohl die Uniformierten höflich sind, meine ich mehrfach, unter ihnen den Gendarmen zu entdecken, der uns an dem Tag, als ich mit Edit das letzte Mal Eis aus der Cukrászda aß, den Befehl gab, innerhalb einer Stunde unsre Sachen zu packen. Und einmal fällt mir ein, was Sándor in seinem Refugium auf dem Karmel erzählt und noch ausführlicher in seiner Niederschrift geschildert hat.
Er musste, ohne etwas mitnehmen zu dürfen, drei Jahre vor uns fort. Mit Ildikó nach dem Unterricht aus dem Gymnasium von Baja nach Vaskút zurückgekehrt, spürte er, kaum in die Postgasse eingebogen, wo sich viele Bewohner in kleinen Gruppen vor ihren Gehöften aufhielten, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignete. Noch nie, schien ihm, hatten die Leute so unverhohlen auf seinen gelben Stern gestarrt. Einige Frauen liefen in geringem Abstand hinter ihnen her, als wollten sie von dem, was sie erwarteten, nichts verpassen. Keinen Steinwurf mehr von ihrem Eckhaus entfernt, erkannte Sándor, dass seine Eltern, flankiert von zwei ungarischen Gendarmen, durchs breite Tor traten. Die Menge, die sich angesammelt hatte und wenig später den kaum verwaisten Laden plündern würde, wich nur so weit auseinander, dass ein schmaler Gang für die kleine Gruppe entstand. Durch den sah Sándor seine Eltern und die beiden Polizisten auf sich zukommen. Der Vater wirkte kleiner als sonst, da er den fast haarlosen Kopf gesenkt hielt, und die Mutter umklammerte seinen rechten Arm, wie wenn sie ihn oder sich stützen wollte. Augenblicke dachte Sándor daran, dass er sich umdrehen und weglaufen könnte. Aber gleich darauf begriff er, dass er nicht weit käme, weil die Leute vor ihrem Geschäft, die, so schien ihm, feindselig herüberblickten, wohl nur darauf lauerten, ihn wie eine Meute blutrünstiger Hunde zu hetzen. Und den Gendarmen, deren finstere Gesichter er jetzt deutlich wahrnahm, traute er zu, bedenkenlos auf ihn zu schießen.
Davon überzeugt, dass sich eine günstigere Möglichkeit bieten würde, doch noch zu entkommen, berührte er Ildikó flüchtig an der Schulter und ließ sich scheinbar willig wegführen. Es war ein Abschied für sehr lange Zeit. Erst zwölf Jahre später sahen sie sich in Haifa wieder.
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