Da niemand bereit schien, ihr beizustehen, wandte sie sich ab, um den ungleichen Kampf vermeintlich allein fortzusetzen. Doch sie war nicht mehr allein. Ich näherte mich von hinten unbemerkt Joki, und als die Mütze wieder auf ihn zuflog, sprang ich blitzschnell vor und schnappte sie ihm weg.
Für den Angetrunkenen, der schon heftig keucht und gerade zum zweiten Mal strauchelt, wird es, vermute ich, wenn ihm nicht ebenfalls jemand hilft, kaum noch glücklich enden. Als ich mich erhebe, spüre ich, dass mich Carola, die nicht weiß, was ich vorhabe, zurückhalten will. Doch ich gehe auf die Gruppe zu, warte, bis der Genarrte an mir vorbeitorkelt, und berühre ihn an der Schulter. Zuerst trifft mich, während er den Kopf wendet, sein wütender Blick, als glaube er, ich wolle die drei jungen Männer unterstützen. Aber dann entdeckt er die flache Schachtel, die ich zwischen Daumen und Zeigefinger halte. Zögernd dreht er sich um, ohne dass sein Argwohn aus den verkniffenen Augen weicht. Sobald ich ein Streichholz anreibe, schirmt er das Flämmchen mit seinen großen, rauen Händen ab und entzündet die zerknüllte Zigarette. Bevor er sich bedanken kann, bin ich, ohne mich um die verdutzten jungen Männer zu kümmern, bereits auf dem Rückweg zur Bank. Carola ist inzwischen aufgestanden und deutet besorgt zum Himmel. Da erkenne auch ich, dass die Wolken zu einer düsteren Fläche verschmolzen sind, die wie eine aschgraue, verschlissene Decke über uns hängt.
Wir müssen uns sputen, um rechtzeitig einen sicheren Unterschlupf zu finden. Der Wind, der jäh aufkommt, faucht in die Wipfel, dass Blätter von den Zweigen stieben und durch die Luft wirbeln. Wir hasten am Harfenspieler vorbei, der seine Utensilien in ein Auto packt, eilen über den Heldenplatz und erreichen die Treppe zur U-Bahn-Station, ehe die ersten großen Tropfen niederprasseln.
Als wir, noch ein wenig atemlos, in dem kleinen Waggon sitzen, der unter der Andrássy út donauwärts fährt, muss ich erneut an Großmutter, Ildikó und Sebastian denken. Flüchtig ist mir, als seien sie wie an den übrigen Tagen in unsrer Nähe. Danach spüre ich, während Carola mich ansieht, jenes schwer erklärbare Gefühl, das sich zuweilen einstellt, wenn ein Abschnitt zu Ende geht, und man möchte, dass er noch dauert.
Nichts ist, denke ich, als ich, kaum erwacht, durchs Fenster die bleiweiße, rötlich umgrenzte Sonne sehe, genau wiederholbar. Wir sind im selben Hotel, unser Zimmer befindet sich wie vor einem Jahr im 7. Geschoss des hohen, zylindrischen Bauwerks, ist, sofern ich mich richtig entsinne, eingerichtet wie das andre, weist die gleichen, leicht konisch verlaufenden, zartgelb getünchten, Seitenwände auf, hat nur eine um sechs Ziffern höhere Nummer und liegt, wenn man aussteigt, nicht rechts, sondern links vom Lift.
Meine Einsicht fußt bloß bedingt auf dieser scheinbar belanglosen Äußerlichkeit, obgleich ihr für das, was ich eigentlich meine, ebenfalls eine gewisse Wirkung zufällt. Während ich das letzte Mal durchs Fenster verfolgen konnte, wie die Sonne, ehe sie glutrot hinter den Ofner Bergen versank, kupfrigen Glanz auf die Gipfel hauchte, vermag ich jetzt zu beobachten, dass sie sich in dem Maße, wie der milchige Morgennebel weicht, sichtlich verfärbt, bis sie silbrig über den Dächern von Pest gleißt.
Wieder genügt ein jäher Reiz, um mir einst Erlebtes oder Erfahrenes nach und nach ins Gedächtnis zu rufen: Das Wasser aus der Dusche, unter der Carola steht, rauscht wie starker Regen. Die Fläche zwischen Parlament und Fischerbastei, über die mein Blick gleitet, verschwimmt mehr und mehr hinter den großen, dicht fallenden Tropfen, bis die Umrisse formlos werden wie an jenem Tag, als ich, nicht weit entfernt von Görlitz, mit Großmutter auf einem langgestreckten, vom Bauern mit zwei Knechten abgeernteten Feld im steinigen Boden zurückgebliebene Kartoffeln stoppelte. Während sie mit einer kurzstieligen, spitzen Hacke zwischen Leuten, die, ihre Köpfe tief gesenkt, verbissen vor, hinter und neben uns buddelten, emsig die festgetretene Erde lockerte, griff ich, sobald sich eine Knolle zeigte, blitzschnell nach ihr, ehe sie mir jemand, der gleichfalls auf einen Fund lauerte, wegschnappen konnte.
Mit allen Sinnen bemüht, den kleinen Abschnitt, den wir, sobald der Bauer, seinen Wagen randvoll beladen, weggefahren war, zwischen den mehr als hundert drängelnden und schubsenden Menschen auf dem leicht welligen Acker erobert hatten, hartnäckig zu verteidigen und möglichst schnell meinen kleinen Rucksack aus derbem Tuch zu füllen, merkte ich lange nicht, dass es immer dämmriger wurde. Erst als sich Großmutter aufrichtete, ächzend ihren Rücken streckte, den Kopf weit nach hinten neigte und zum Himmel blickte, wo sich dunkelgraue Wolken wie große, schmutzige Segel blähten, wurde es mir bewusst.
„Wir müssen weg“, sagte sie. „Gleich gibt’s ein Unwetter!“
Ich schnürte rasch meinen Rucksack zu, hängte ihn um und folgte Großmutter, während sie sich eine Weile zwischen hastenden, ärmlich gekleideten Leuten bewegte, die einer mehrere hundert Meter entfernten Baumgruppe zustrebten, ehe sie plötzlich nach rechts auf einen Feldweg abbog. Ich begriff, dass sie zu der schmalen, zwei Tage vorher entdeckten, Brücke wollte, die sich über einen quirligen Bach spannte. Als wir sie im fahlen Zwielicht schon sehen konnten, zuckte der erste Blitz, und kaum hatten wir uns, das letzte Stück, so schnell wir konnten, über die begraste Böschung gelaufen, atemlos unter ihr neben einen runden, rissigen Holzpfeiler gesetzt, hörte ich, wie über uns der Regen auf die dicht aneinander gefügten Bohlen prasselte.
Im vergangenen Sommer, fiel mir ein, wenige Tage, bevor der Gendarm zu uns gekommen ist, haben wir keinen Unterschlupf gefunden. Wir waren auf abgeschiedenen Wegen noch einmal zu viert in die nahe Kreisstadt Baja gefahren. Unsre Väter hatten Edit und mich auf den Querstangen ihrer Fahrräder mitgenommen. Manchmal mussten sie kräftig in die Pedale treten, um mit dem zusätzlichen Gewicht über besonders sandige Stellen zu gelangen. Wir badeten in der Sugovica, einem Donauarm, der langsam strömte und wie Quecksilber glitzerte. Nachher hockten wir uns auf die Uferböschung, die schilfgrün begrast war wie hier, ließen uns von der Sonne trocknen und blickten manchmal zum blassblauen Himmel, über den nur wenige weiße Wölkchen trieben, so dass ich hoffte, der Tag würde heiter bleiben. Aber schon zwei Stunden später trübte es sich plötzlich ein, und sobald auch noch heftiger Wind zu wehen begann, brachen wir überhastet auf.
Wir hatten erst die halbe Strecke zurückgelegt, als es donnerte, und Blitze flackerten. Rasch verfinsterte sich der Himmel, und dann begann es zu regnen wie jetzt. Die großen, schweren Tropfen peitschten uns ins Gesicht, und ringsum gab es keine Behausung, die uns Schutz geboten hätte.
Als wir von den Rädern stiegen, fielen Blitz und Donner fast zusammen. Schweflige Streifen rasten übers grauschwarze Firmament, zerrissen das Halbdunkel, tauchten die Landschaft für Sekunden in blendende Helle.
„Hinlegen!“, rief mein Vater, ließ das Fahrrad fallen und warf sich ins Unkraut, das kniehoch wucherte.
Ich zog Edit zu einer Mulde, wo wir zu Boden glitten und uns fest anschmiegten, was, wie ich heute weiß, nicht den besten Schutz bot. Obwohl ich meine Augen schloss, nahm ich jeden Lichtreflex wahr. Der Regen wurde stärker und stärker, durchnässte uns bis auf die Haut.
Eine Weile lagen wir reglos. Dann rückten wir aufeinander zu, Stück um Stück, bis sich unsre Schultern berührten wie später, am letzten gemeinsamen Morgen, als wir, von einer noch matten Sonne gewärmt, vor unsrem lindgrünen Haus hockten, die Rücken an den höckerigen Sockel lehnten und sorglos das in der nahen Cukrászda gekaufte Eis aßen, bis wir bemerkten, wie straßenabwärts Gendarmen in die Häuser gingen.
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