Ich begriff noch nicht, was geschah, als Tom mich dorthin zog, wo sich, genau in Richtung der Panzer, die unaufhaltsam heranrollten, eine breite Gasse öffnete. Vorbei an Leuten, die umgerissen, überrannt und niedergetrampelt wurden, liefen wir scheinbar schnurstracks ins Verderben.
Was hatte Tom vor? War er von Sinnen?
Als sich die Panzer keinen Steinwurf mehr von uns entfernt befanden, drängte er mich nach links, und wir erreichten, geschickt die vorhandenen Lücken ausnutzend, atemlos einen Hausflur. Wir hetzten die Treppen hoch, erkletterten vom offenen Boden das flache Dach und traten so nahe an den Rand, dass wir auf den Platz blicken konnten. Dort waren noch zahlreiche Leute, die, auf der Flucht durch eigenes Unvermögen oder fremde Schuld zurückgeblieben, verzweifelt versuchten, Seitenstraßen, Geschäfte oder die nahe Kirche zu erreichen. Die ersten Panzer walzten die Tribüne nieder und fuhren den Fliehenden hinterher. Ich beobachtete, wie eine alte Frau wenige Meter vor einer Haustür strauchelte, als Tom mich zu Boden riss. Kaum lagen wir, krachten Schüsse, und die Kugeln surrten dicht über uns hinweg.
Ich spüre, wie mein Puls in den Schläfen pocht, und als ich schlucken will, gelingt es mir nicht, weil mein Gaumen trocken ist. An Carolas Blick erkenne ich, dass sie ahnt, was in mir vorgeht. Mir gefällt, dass sie nichts sagt.
Hier war es, wie die Bilder der Hingerichteten belegen, gefährlicher als in Görlitz, denke ich. Viele wagten das Äußerste, um ihre Ziele zu erreichen. Der Aufstand brach erst zusammen, als der ungleiche Kampf gegen die russischen Panzer aussichtslos geworden war.
Ildikó und Sebastian kamen körperlich unversehrt davon. Beide begriffen, dass sie sich entscheiden mussten, wie und wo ihr Leben weitergehen sollte. Sebastian floh ins Ungewisse. Ildikó hingegen wusste, wohin sie wollte, als sie die Grenze überschritt.
Seit Sándor nicht weit von unsrem Dorf aus dem Judentransport geflohen war und sich bis Haifa durchgeschlagen hatte, trennten sie nicht nur Tausende von Kilometern, sondern auch zweierlei Ordnungen. Als der Aufstand begonnen habe, erzählte er mir auf ihrer Terrasse, sei er voll fiebriger Erwartung gewesen. Abend für Abend habe er am Radio gesessen, um zu erfahren, was sich in Budapest abspiele. Als die Niederlage absehbar geworden sei, habe er sich gewünscht, dass Ildikó die plötzliche Gelegenheit, das Land zu verlassen, nutzen möge, sei andrerseits aber voller Sorge gewesen, dass sie sich einer zu großen Gefahr aussetzen könne. Später, als er erfahren habe, unter welchen Schwierigkeiten sie zu ihm gelangt sei, habe er in Gedanken nahe der Grenze neben ihr unterm dornigen Gestrüpp gelegen, in die Dunkelheit gespäht, die Schritte der Posten gehört und gefürchtet, es würden Schüsse fallen wie an jenem späten Nachmittag, als er aus der Reihe gesprungen und mit jagendem Puls zum Moor gehetzt sei.
Wie es Sebastian bis zu den Blauen Bergen verschlug, ist mir nicht genau bekannt, begreife ich, als wir schon in Richtung Heldenplatz weitergehen. Aber er kommt mir oft in den Sinn, seit ich in Vaskút von seiner Mutter erfahren habe, wo er lebt. Vielleicht, denke ich, wäre ich in seine Nähe gelangt, wenn uns die Verhältnisse wie ihn zu einer raschen Entscheidung gezwungen hätten. Aber so fehlte uns wohl der letzte Schneid, zu viert auszuwandern, wie Wolf, Manfred, Norbert und ich es in den Sommerferien nach der achten Klasse abgesprochen hatten. Außerdem waren unsre Vorstellungen, von heute aus betrachtet, ziemlich versponnen: Unter hohen, alten Eukalyptusbäumen ein Blockhaus, fest gezimmert, nicht weit davon ein See, am Steg ein Kanu... Trotzdem versuchten wir, uns zielstrebig auf das geplante Unternehmen vorzubereiten. Zwei-, dreimal in der Woche liefen wir auf dem Rundkurs am Stadtrand, führten penibel Buch über Zeiten und Platzierungen, freuten uns über jeden Fortschritt. Doch später weckten die unterschiedlichen Berufe, die wir erlernten, bei jedem neue Ziele. Das Bestreben, sie zu erreichen, zwang uns, in andre Orte zu gehen. Bis zu den Blauen Bergen kam niemand. Aber Wolf und Manfred wechselten vor jener Nacht, in der ich mit Anke vom Bahnhof Zoo nach Osten fuhr, über die innerdeutsche Grenze.
Vom Heldenplatz, wo Carola länger als ich das Millenniumsdenkmal betrachtet, biegen wir in eine schmale Straße ein. An der übernächsten Kreuzung finden wir ein kleines, verstecktes Restaurant und setzen uns auf die von Bäumen beschattete Terrasse. In den folgenden Tagen werden wir noch zweimal hier einkehren, weil das Essen gut ist, die Kellner flink bedienen und nicht versuchen, gleich ein Trinkgeld von fünfzehn Prozent oder mehr auf die Rechnung zu schreiben, wie es in andren Lokalen öfter bei unbedarften Ausländern geschieht. Am meisten jedoch zieht uns, glaube ich, ein graugetigerter Kater an, der immer lautlos von irgendwo auftaucht und uns um die Beine schmeichelt. Wenn Carola ihn füttert, erinnere ich mich an seinen fuchsroten Artgenossen, der in Haifa, als wir im weit oben gelegenen Stadtteil Central Carmel Abendbrot aßen, an unsren Tisch kam, sich ein Stück entfernt hinsetzte und mit den Augen bettelte, bis er von Ines die erwarteten Häppchen erhielt. Auch an die schwarz-weiße Katze mit dem glanzlosen Fell denke ich, die in Jena durch unsre Siedlung streunt und oft hungrig an unsrem Sitzplatz erscheint, weil ihre arbeitslosen Besitzer sie anscheinend nicht mehr ausreichend versorgen. Und einmal meine ich, unsre Macska Schneewittchen zu sehen, die wir an dem Tag, als der Gendarm gekommen war, wie die Kuh Rosi, die zwei Schweine, das Geflügel und Betyár, unsren Hund, zurücklassen mussten.
Schon auf der Güterzugfahrt, die uns nach drei Tagen und vier Nächten in die sächsische Stadt Pirna brachte, versuchte ich, mir vorzustellen, wie es der Katze, die unsre Anwesenheit gewöhnt war, allein ergehen mochte. Meine Sorge hielt auch im Lager an und verlor sich erst in Görlitz, als ich von Edit den ersten Brief erhielt. Sie hatte ihm ein Foto beigelegt, das zeigte, wie sich Schneewittchen auf ihrem Schoß rekelte. Ihre Eltern, schrieb sie, seien sofort einverstanden gewesen, als sie darum gebeten habe, die ihr vertraute Katze aufnehmen zu dürfen.
Die Sonne scheint warm wie an den übrigen Tagen, während wir auf dem Schiffsdeck sitzen, nordwärts fahren und aus den Kopfhörern deutsche Erklärungen zu Brücken, Gebäuden und wichtigen Ereignissen vernehmen. Ich lausche nur mit halbem Ohr, schließe die Augen, halte mein Gesicht wie Carola ein wenig schräg nach oben, damit die Sonnenstrahlen es berühren, und genieße das Lüftchen, das meine Haut streichelt. Wir fahren auch mit, weil das Schiff an der Margitsziget anlegt, und uns Zeit für einen größeren Rundgang bleibt.
Während wir über die sauber geharkten Wege laufen, erinnere ich mich an das, was ich während der Bahnfahrt gelesen habe: Die Insel bestand einst aus drei selbstständigen Teilen, die erst im 19. Jahrhundert miteinander verbunden und zu einem öffentlichen Park erklärt wurden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mussten Besucher Eintrittsgeld zahlen. Seitdem darf das weitläufige Gelände kostenlos betreten werden. Großmutter konnte sich also wahrscheinlich schon überall ungehindert bewegen. Sie wird, denke ich, öfter stehen geblieben sein und die Bäume betrachtet haben, die wohl damals bereits eine beachtliche Höhe aufwiesen. Ich bin fast sicher, dass sie nicht weit von der Bank, auf die wir uns gesetzt haben, gewesen ist, um die Platane mit der gewaltigen Krone zu betrachten, weil sie der ähnelt, die unweit von Vaskút einzeln auf einer Brache steht. Wenn Großmutter mich zu unsrem Krautacker mitnahm, kamen wir auf einem sandigen, keinen Steinwurf entfernten, Weg an dem Baum vorbei. Fast immer verharrte sie eine Weile und blickte in die dicht belaubte Krone, wo meist Vögel von Zweig zu Zweig hüpften und lauthals zwitscherten. Manchmal liefen wir durch das hohe, verfilzte Gras, und ich durfte von einem weit ausladenden Ast, den Großmutter herunterzog, einige der runden, stachligen Früchte abzupfen, die ich in meine Hosentasche steckte.
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