1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Ganz recht. Es ist nicht nur meine Meinung. Es gibt Statistiken aus Kriminalprozessen, die das belegen. Die Neuronenverbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen steuern die Aktionen – oft auch ohne Bewusstseinskontrolle. Der Mensch handelt, ohne es bewusst zu wollen. Wenn ein Kind vor Ihr Auto läuft, treten Sie spontan auf die Bremse. Das ist ein Reflex. Ihr Wollen ist da gar nicht gefragt. Oder: Sie gehen über die Straße, schauen erst nach links, dann nach rechts. Das ist unbewusst, weil Sie es gewohnt sind, weil Sie es schon tausend Mal so gemacht haben – weil Ihr Unterbewusstsein weiß, dass die Gefahr von links kommt.“
„Mein Wissen, dass bei Rechtsverkehr die Gefahr zuerst von links kommt, ist aber Voraussetzung für das unbewusste Handeln. Ist es nicht so?“
„Richtig. Sie haben das Wissen durch Erfahrung erworben. Die Gehirnzellen haben die Erfahrung gespeichert. Diese sind es – verkürzt gesagt –, die auf die Bremse treten, nicht Ihr bewusstes Wollen.“
Hermes gab sich noch nicht geschlagen. „Das kann aber nicht heißen, dass solche unbewussten Impulse stärker sind als mein bewusstes Wollen.“
Dr. Singh breitete die Hände aus wie bei einer Beschwörung. „So spricht der Philosoph! Die Hirnforschung kann noch immer nicht alle Fragen beantworten. Die geistigen Prozesse, die mit den Neuronen – den Trägern der Botschaften – zwischen den Gehirnzellen ablaufen, sind so komplex, dass sicher noch Jahre vergehen werden, bis das Geheimnis des Gehirns restlos gelüftet ist. Es wäre das Geheimnis des Lebens schlechthin.“
Hermes nickte nachdenklich. „Das Gehirn ist sicher das wichtigste Organ im menschlichen Körper.
„Nicht nur im menschlichen Körper“, korrigierte Dr. Singh. „Jedes Lebewesen – jede Fliege, jeder Wurm – hat so ein Steuerungsorgan. Die Hirnforschung bedient sich dieser Tatsache, um experimentell Erkenntnisse zu gewinnen, die allgemeingültig für jedes Lebewesen sind. Das menschliche Gehirn ist lediglich das am weitesten entwickelte.“
Hermes seufzte. „Und das Herz, das Zentrum der Gefühle, wie wir so gern glauben, ist nichts anderes als eine Pumpe!“
„Sogar austauschbar, künstlich hergestellt. Was beim Gehirn nicht möglich ist. Noch nicht. Aber vielleicht kommt auch das noch. Auf dem Gebiet der Molekularbiologie ist die Wissenschaft bereits weit vorgedrungen.“
„Eine grausige Vorstellung!“ Hermes schüttelte sich. „In puncto Gehirnwäsche hat man ja schon genügend Erfahrung gesammelt. Und Sie machen da mit, Dr. Singh?“
Der junge Wissenschaftler zeigte wieder sein unbestimmtes Lächeln. „Ich bin schon viel weiter, verehrter Professor. Die Neugier treibt mich. Ursprünglich wollte ich einfach nur Arzt werden. Anderen Menschen helfen. Kranke heilen! Welch schönes Ideal! Aber schon während des Studiums hat mich dieser graue Zellklumpen, Gehirn genannt, mehr fasziniert als alle anderen Organe. Vor allem, weil er so nichtssagend aussieht und so bedeutungsvoll sein soll. Und vor allem, weil es noch so viele offene Fragen gab, was seine Funktion betraf. Deshalb hatte ich mich auf die Gehirnforschung spezialisiert, bin eingedrungen in die unbegrenzte Vielfalt der Neuronen und ihrer Eigenschaften … Bis ich auf den Kern gestoßen bin. Buchstäblich: den Kern der Zellsubstanz – den molekularen Aufbau der Zellen und die Möglichkeit, diesen zu verändern. So bin ich über die Molekularbiologie schließlich bei der Physik gelandet – der Mutter aller Naturwissenschaften, wie ich heute weiß.“ Dr. Singhs schwarze Augen leuchteten auf. „Die Nanotechnologie hat uns bewiesen, dass wir den atomaren Aufbau im Molekül verändern können … und damit auch die Eigenschaften bestimmter Substanzen.“
„Heißt das nicht, der Natur ins Handwerk pfuschen?“, fragte Hermes skeptisch.
„Wir machen nur nach, was die Natur uns vormacht. Die Welt ist längst voll von sich selbst replizierenden molekularen Lebensformen. Nehmen Sie nur die Viren und Bakterien. Sie mutieren, wenn sie mit Medikamenten beschossen werden, die ihre Eigenart bedrohen. Man hat ihnen sozusagen den Schlüssel für die Haustür genommen. Dann produzieren sie aus sich selbst heraus einen Schlüssel für die Hintertür.“
„Und Sie glauben, Sie könnten auf diese Weise auch Hirnzellen verändern?“
„Es ist möglich.“ Der euphorische Glanz in Dr. Singhs Augen nahm um einige Grade zu. „Sogar der Eingriff in das Genom, in die Erbsubstanz, ist möglich. Gentechnische Veränderungen von Molekülen der Gehirnzellen hat man in Tierversuchen erprobt. Warum sollte es nicht möglich sein, auf diese Weise auch individuelle Eigenschaften und Eigenarten eines Menschen zu verändern?“
„Der Mensch nach Wunsch – aus der Retorte programmiert? Ist das Ihr Ziel, wonach Sie streben?“ Hermes starrte sein Gegenüber entsetzt an.
„Biologie, Chemie und Physik arbeiten gemeinsam daran. Ich meine, zum Wohle der Menschheit. Der Mensch der Zukunft könnte wieder der sein, der er eigentlich sein sollte: ohne Krankheit, ohne Bosheit – ohne all die schlechten Eigenschaften, die er seit biblischen Zeiten weitervererbt hat, die zur Selbstzerfleischung in Kriegen und Pogromen geführt haben und zu unsinnigen und überflüssigen Kämpfen um Selbstbestätigung.“
Hermes schüttelte den Kopf. „Das wird wohl nie geschehen“, sagte er. „Und selbst wenn: Es wäre das Ende der Menschheit – der menschlichen Menschheit. Dieses Retortenwesen wäre nicht besser als die Roboter, die heute schon auf dem Markt sind: technische Hilfskräfte ohne Intelligenz, ohne eigenen Willen.“
„Sagen Sie das nicht, Professor!“ Dr. Singh beugte sich vor und nahm den Salzstreuer vom Tisch in die Hand. „Eines Tages, da bin ich ganz sicher, wird man dieses Salz in Zucker verwandeln. So wie Jesus Wasser in Wein verwandeln konnte. Und man wird den Tod in Leben verwandeln!“ Er klopfte mit dem Salzgefäß auf die Tischplatte. „Das Glas ist keine tote Masse. Alle Materie besteht aus Molekülen, alle Moleküle setzen sich aus Atomen zusammen, in jedem Atom schlummert Energie – in Bewegung kreisende Elementarteilchen. Materie, Energie und Bewegung sind eins. Sie sind das A und O des Lebens. Leben ist nichts anderes als Eigenbewegung von Materie. Es gibt keinen Tod. Der ganze Kosmos ist Energie und Bewegung. Es ist nur eine Frage der Zeit …“
Hermes brach in Lachen aus. „Jaja, machen Sie ruhig so weiter, Herr Dr. Singh. Wenn Sie wirklich das glauben, was Sie sagen, können Sie mir nur leidtun. Die Lektüre Ihres Buches – wie war gleich der Titel?“
„Die Materie lebt!“
„Ja, also – die Lektüre kann ich mir wohl sparen.“
Das Gespräch mit Dr. Singh hatte Guido Hermes mehr aufgewühlt, als er sich eingestehen wollte. Das manipulierte Gehirn – der manipulierte Mensch! Die Vorstellung ließ ihn nicht los. Die Beeinflussung des Gehirns durch die Medien. Das Trommelfeuer an Schwachsinn und Lust an allen Spielarten menschlichen Fehlverhaltens, das täglich im Fernsehen auf ein wehrloses Publikum losgelassen wird, kann nicht ohne Wirkung bleiben, sagte er sich. Den Rest besorgt diese Bücherflut hier, die die Gehirne nicht nur mit wertvollem Wissen speist, sondern ganz offensichtlich auch mit negativen Impulsen.
Auf der Suche nach einem ruhigen Ort der Besinnung musste sich Hermes eingestehen: Das Gerede von diesem Dr. Singh hatte auch sein Denken beeinflusst. Endlich fand er einen Platz im Pressezimmer, ließ sich in einen der bequemen Ledersessel fallen und sann darüber nach, dass schon die Inquisition der römischen Kirche im Mittelalter einen Index der verbotenen Bücher eingeführt hatte, um ihre Schäflein vor Einflüsterungen des Teufels zu bewahren. Wie mächtig diese Einflüsterungen sein können, hat die Kirche erfahren müssen. Ihm war auch bewusst, dass autoritäre Staaten der Neuzeit diese Macht zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden. Hermes hatte die Hitlerzeit noch als Kind erlebt. Damals wurden nicht nur verbotene Bücher verbrannt, wie er sich entsann, sondern die teuflischen Einflüsterungen einer verbrecherischen Politik wurden in Literatur jeglicher Art verbreitet. Wie wirkungsvoll, hatte die Geschichte erwiesen.
Читать дальше