Noch vor der vereinbarten Zeit ging Hermes nach oben zum Messestand des Buchmann Verlages, um endlich die Frau wiederzusehen, die ihm seit einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging. In Gedanken an sie war er in seinem Sessel fast ein wenig eingenickt und ins Träumen geraten.
Das Wiedersehen war ein Schock. Er hätte Herma beinahe nicht mehr erkannt. Sie war bereits da und unterhielt sich mit Lilott Buchmann. War sie es wirklich? Herma war ungeschminkt, die blutvollen Lippen ohne den aufreizenden Glanz, den sie in seiner Erinnerung hatten. Die Lockenhaare waren versteckt unter einer grauen Strickmütze, die Figur umhüllte ein unförmiger Parka, die Beine verschwanden in schäbigen Jeans: Wie eine dieser Allerweltsfrauen sah sie aus, die ihre Weiblichkeit leugnen wollen. Wo war Hermas so bezaubernder Charme geblieben?
„Bin nur schnell hergekommen, um Sie zu sehen, Professor Hermes“, begrüßte sie ihn hastig und reichte ihm förmlich die Hand. „Ich muss gleich weiter zu einem anderen Termin. Im Zoo!“ Sie lachte. „Hab leider für hier kein Kamerateam mehr bekommen.“
Die Verlegerin drängte beide hinter die Dekoration des Standes, wo sie sich setzen konnten. Noch immer leicht außer Atem fuhr Herma fort: „Hab aber einen besseren Vorschlag: Sie kommen heute Abend zu mir ins Studio, zur Livesendung über die Buchmesse. Was halten Sie davon?“
Hermes sah sie noch immer ungläubig an. Diese Frau hatte nichts mit dem Bild gemein, von dem er noch eben geträumt hatte. „Ich weiß nicht“, war alles, was er zu sagen vermochte.
Frau Buchmann schaltete sich ein. Sie war hinter Hermas Stuhl stehen geblieben, als müsse sie ihr einflüstern. „Ein Interview hier am Messestand, das Frau Dr. Schäfer dann in ihrer Sendung bringen würde, fände ich natürlich schöner. Wegen der Werbung, Sie verstehen. Aber Ihr persönliches Erscheinen in der Livesendung, lieber Guido, ist vielleicht doch noch wirkungsvoller.“ Sie nickte Hermes aufmunternd zu. „Nehmen Sie den Mischkrug mit!“ Sie reichte ihm eines der Presseexemplare.
Noch immer geschockt von der Entzauberung seiner Herma-Vision wanderte sein Blick zwischen beiden Frauen hin und her. „Was soll ich da machen?“, fragte er hilflos.
„Überlassen Sie das alles mir“, sagte die Frau, die Dr. Schäfer hieß, was ihm wieder bewusst wurde. „Wir plaudern ein wenig über Ihr Buch. Der Roman hat mich fasziniert. Er wirft so viele Fragen auf. Ich freue mich schon jetzt darauf, was Sie dazu sagen werden.“
„Ich weiß nicht …“, wiederholte Hermes, noch immer unsicher. Diese Frau Dr. Schäfer machte ihm Angst. War es möglich, dass sie sich verstellte, sich nur verkleidet hatte? Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass zwischen ihnen beiden eine geheime Beziehung bestand? So war es doch! Er suchte in Hermas Augen nach Bestätigung.
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die seine. „Seien Sie unbesorgt, lieber Professor Hermes.“
Die Berührung durchfuhr ihn. Wie damals, vor einem Jahr im Chinarestaurant, als sie die Hand über den Tisch gereicht und damit das Bündnis des gegenseitigen Verstehens besiegelt hatte. Es war also immer noch da. Sie ließ es ihn spüren.
Er atmete auf. „Gut – Frau Schäfer, ich vertraue Ihnen“, sagte er mit fester Stimme.
„Warum so förmlich, Guido? Für Sie bin ich immer noch Herma.“
Sie sagte es so selbstverständlich, dass die Verlegerin aufhorchte. War da etwas zwischen den beiden, von dem sie nichts wusste? Mit Sorge hatte sie des Professors anfängliches Zögern verfolgt. „Das hört sich ja gut an“, sagte sie erleichtert. „Da brauche ich mir keine Gedanken zu machen, dass die Sendung kein Erfolg wird.“
Herma stand auf. „Ich bin in Eile, tut mir leid. Aber, Frau Buchmann, Sie haben recht: Der Professor und ich, wir verstehen uns bestens. Das hat sich ja schon voriges Jahr gezeigt – nicht wahr, Guido?“
Er erhob sich ebenfalls, beflügelt von Hermas neuer Tonart. „Ich begleite Sie noch ein Stück hinaus“, sagte er. „Sie müssen mir noch genau sagen, wann ich wo sein soll.“
Er fasste nach ihrem Arm, als wolle er sie geleiten, in Wahrheit aber nur, um sie zu berühren, ihr nahe zu sein.
Erst als sie das Gedränge in der Halle hinter sich hatten, ergriff sie wieder das Wort: „Nehmen Sie sich ein Taxi. Sie brauchen nur zu sagen: Zur Media City in der Kantstraße. Er soll Sie bei der Pforte absetzen. Es wird Sie jemand erwarten und zu mir ins Studio bringen. Richten Sie es so ein, dass Sie spätestens um halb sieben da sind. Die Sendung beginnt um sieben.“
Sie hatten den Ausgang erreicht. Hermes blieb stehen. „Müssen wir nicht vorher noch einiges besprechen?“, fragte er.
„Wird nicht nötig sein.“ Sie lächelte gelassen. „Vergessen Sie die Kamera und das ganze Drumherum. Schauen Sie nur mich an, Guido. Ja? Es ist, als wären nur wir zwei allein – und wir reden ein bisschen.“
„Wie viel Zeit haben wir da?“
„Nur ein paar Minuten. Es kommen ja noch andere Beiträge. Aber die Zeit wird genügen, um den Roman kurz vorzustellen. Das verspreche ich Ihnen.“
Hermes nahm sie plötzlich in die Arme. „Sehen wir uns wenigstens anschließend noch?“
„Laden Sie mich zum Essen ein? Wieder bei dem Chinesen?“
„Ich werde dort auf Sie warten – Herma.“ Er küsste sie auf die Wange.
Sie schaute ihn überrascht an, wandte sich schnell um und lief zum Ausgang, wo ihr Dienstwagen vom MDR wartete. „Also, bis später. Seien Sie pünktlich!“, rief sie und verschwand.
Aufs Neuste beflügelt, mit einem Extraexemplar des Mischkrug unterm Arm, fuhr Professor Hermes zurück zum Leipziger Hof, sich geistig, seelisch und körperlich auf den Fernsehauftritt mit Dr. Herma Schäfer vorzubereiten. Sie war es ja immer noch, die Herma aus dem vorigen Jahr. Sie hatte sich nur äußerlich verwandelt, redete er sich ein, weil sie zu einem anderen Termin beordert war – in den Zoo! Wie vielseitig doch dieser Beruf einer Fernsehjournalistin ist! Ob es ihr etwas ausmachte, einmal einen Affen und dann einen Buchautor zu interviewen? Auf Äußerlichkeiten schien sie wenig Wert zu legen. Oder unterdrückte sie vielleicht bewusst ihre weibliche Ausstrahlung, die ihn bei ihrer ersten Begegnung so stark beeindruckt hatte? Hatte diese Wandelbarkeit etwas mit ihrem Herma-Wesen zu tun? Mit der Vielseitigkeit des Hermes, worüber wir damals im Chinarestaurant gesprochen hatten? Ist sie vielleicht gar ein Hermaphrodit – halb männlich, halb weiblich? Der Gedanke faszinierte ihn. Ich werde das prüfen müssen, nahm er sich vor.
Das Taxi setzte Professor Hermes um viertel nach sechs an der Pforte der Media City ab. Eine Volontärin erwartete ihn bereits und brachte ihn zum Studiogebäude. Dies also ist die Fabrik, in der die Meinungen gemacht werden und die Welt nach Wunsch der Einschaltquoten zurechtgezaubert wird, stellte er angesichts der vielen Gebäude und der Betriebsamkeit fest, die zur vorgerückten Stunde auf dem Gelände herrschte. Trotz wiederholter Angebote im Laufe seiner akademischen Karriere hatte er es immer abgelehnt, mit dem Medium Fernsehen näher in Berührung zu kommen. Hätte nicht Cornelia darauf bestanden, wäre nie ein TV-Empfänger in sein Haus gekommen. Um mit der Zeit und dem Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, genügte ihm die Zeitung, die jeden Morgen auf dem Frühstückstisch lag. Radio hörte er nur, wenn ein Konzert klassischer Musik auf dem Programm stand. Das Fernsehen war ihm unheimlich. Die ständige Schnittfolge von Bildern verwirrte ihn. Das war nicht die Wirklichkeit, auch wenn dies in den aktuellen Berichten vorgegeben wurde. Er lebte in einer anderen Welt − einer geistigen Welt, die keine Gegenwart kannte. Die alten Griechen und Römer waren ihm vertrauter als die Menschen, von denen er täglich in der Zeitung lesen musste. Den Vorwurf, er sei weltfremd, ließ er jedoch nicht gelten. Die Gegenwart bedeutete für ihn nichts Neues, sie wiederholte ja nur das Gültige aller Zeiten. Das hatte er auch in seinem Roman ausdrücken wollen. Es war ihm nicht geglückt, er hatte es längst eingesehen, schon bevor es ihm die Verlegerin schonend beizubringen versucht hatte. Umso mehr hatte ihn Hermas positives Urteil überrascht.
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