Vorerst war Artur sprachlos. Er hätte nur die Spenderin zu nennen brauchen. Doch sollte er die gute Frau hineinziehen? Karpfen hatte es in den letzten Wochen überhaupt nicht gegeben. Weiß der Teufel, auf welchem Weg Albertine ihn ergattert hatte. Artur begann eine Antwort hervorzustottern, doch der Blaue ließ ihn nicht ausreden. "Jaja, mein Freundchen, geklaut! Jetzt kommst du mit, und ab geht's ins Zuchthaus."
Artur sah rote Kreise, und in seinem Kopf brauste es. Er wäre dem Blauen an die Kehle gegangen, wenn der ihn nicht derb gepackt hätte. Widerwillig erst, dann apathisch, ging Artur mit. Ein Stück von der Markthalle weg sagte der Blaue: "Gib es zu, dass du ihn geklaut hast."
"Nein", schrie Artur, "und außerdem können Sie mich mal, im Zuchthaus hänge ich mich sowieso auf!"
Der Blaue blieb stehen und ließ Artur los. Tief betrübt sah er ihn an. "Ein Menschenleben werde ich nicht auf mein Gewissen laden. Mach, dass du nach Hause kommst."
Schwupp, war der Karpfen unter seiner Pelerine verschwunden.
Zu Hause schimpfte sich Artur das Herz frei. Die Mutter hörte ihm zu und dachte: wie der Alte. Nun wird es wohl aus sein mit der nahrhaften Markthallenbeschäftigung. "Ich kann dich schon verstehen", sagte sie und seufzte.
Artur fuhr auf. "Ich gehe nicht mehr in die Halle arbeiten, lieber verrecke ich vor Hunger!" Dann lief er in die Kammer.
Von dort holte ihn der Vater. "Komm essen, Artur." Er packte seinen Zweiten beim Kopf, und sie schauten sich in die Augen. "Es muss auch so gehen, Junge. Deine Markthallenarbeit hat mir nie recht gefallen. Glaub mir, der Kladderadatsch kommt bald. Bis dahin müssen wir die Ohren steifhalten. Hast wieder was gelernt."
In der Stube holte der Vater den Schuhkarton mit den Familienpapieren. "Bist verständig genug, wirst nichts ausquatschen", sagte er zu Artur. Aus dem Stammbuch schüttelte er einen zusammengefalteten Zettel. "Hier, ist weidlich rumgegangen in unserer Werkstatt. Morgen geb' ich ihn weiter an die zweite Schicht."
Begierig überflog Artur den Text. Es war ein abgeschriebenes Flugblatt der Spartakusgruppe. In eindringlichen Worten wurden die Arbeiter zum Kampf gegen die Feinde im eigenen Land aufgerufen, gegen die imperialistischen Kriegsmacher und ihre Helfer, die sozialdemokratischen Durchhaltepolitiker. Da waren Wörter, deren Bedeutung Artur nicht begriff, doch der Sinn des Ganzen ging ihm ein.
Bruno hatte Artur nicht verstehen können, der ihm in der Schule doch stets über war. Wer hatte Artur denn den Tipp mit der Markthalle gegeben? Enttäuscht schimpfte Bruno: "Ehrgefühl! Was 'n Quatsch! Hast doch den Karpfen nicht geklaut."
Aber Artur brachte es nicht über sich, wieder in die Markthalle zu gehen. Um so eifriger stimmte er zu, als ihn die Mutter fragte, ob er mitkommen wolle über Land, Kartoffeln, Möhren oder Kohl aufzutreiben, irgendetwas Essbares.
Samstagmittag traf sich vor dem Bahnhof eine Gruppe Frauen, einige hatten ihre größeren Kinder mitgebracht. Auch die junge Frau Borbach war dabei und Erika. Artur und das Mädchen freuten sich mehr, als sie es zeigten. Die Bahnfahrt wurde ihnen recht kurzweilig. Der Zug war gedrängt voll, wie die Stopplerzüge im Herbst. Jetzt, im Februar des Jahres achtzehn, war die hart gefrorene Erde mit schmutzig-fleckigem Schnee bedeckt, und die goldenen Stoppeltage lagen fern wie ein verlorenes Paradies. Die im Zug nannten sich 'Hamsterer'. Artur gefiel das Wort nicht. Wir wollen, doch keine Vorräte anlegen wie der Hamster, dachte er, sondern nur unsere Hungerrationen aufbessern.
Die Reinshagener Gruppe strebte von der Bahn weg, quer ins Land hinein; überlaufene Dörfer an der Bahnlinie abzuklappern wäre vertane Zeit gewesen. Ein tüchtiger Fußmarsch brachte sie in ein einsames Dorf. Trotzdem gelang es keinem, Brot, Mehl, Eier oder Käse zu bekommen, nicht einmal Kartoffeln. Unter Wehklagen rückten die Bäuerinnen nur ein paar Kohlköpfe heraus, Mohrrüben und rote Rüben. Artur dachte an Nepomuk und dessen Bittgang. Jetzt ging er selbst von Tür zu Tür, um etwas zu kaufen, und es war doch wie eine Bettelfahrt.
Am Ende des Dorfes kam Artur mit einem gleichaltrigen Häuslerjungen ins Gespräch. Hubert beteuerte, sie hätten selbst nur so viel, um nicht hungern zu müssen und Schwein und Ziege über den Winter zu bringen. Dass Artur ihm das glaubte; gefiel ihm so, dass er verschwand und mit einem Maß voll Roggen und zwei rotbäckigen Äpfeln wiederkam: Während er den Roggen in Arturs Joppentasche kippte, meinte er verlegen: "'n bisschen was zu kauen in der Bahn." Artur verstaute die Äpfel in der Hosentasche und sagte seufzend: "Ihr habt's gut."
"Trotzdem würde ich tauschen", antwortete Hubert.
"Höchstens acht Tage würdest du unsern Kohldampf aushalten."
"Und du würdest es hier höchstens acht Tage aushalten, mit 'nem Haufen Langeweile und viel Prügel in der Schule. Wenn ich vierzehn bin, kratze ich aus."
"Besorg dir aber vorher 'ne Lehrstelle. Der Scheißkrieg wird bald aus sein, sagt mein Vater. Dann brauchen sie Arbeiter, weil so viele gefallen sind."
"Mein Bruder ist auch gefallen. - Vater sagt genauso: Scheißkrieg."
"Schreib dir meine Adresse auf. Wenn du mal nach Remscheid kommst, weißt du einen, den du kennst."
"Mann", sagte Hubert, "wir müssten Freunde werden."
Sein Gekrakel auf einer Tüte ging sehr langsam. "Wenn du mich nicht verrätst, verrate ich dir was."
Artur gab ihm die Hand darauf, und Hubert flüsterte: "Ihr müsst raus zum Gutsvorwerk, da sanieren sie Kartoffeln. Sie fahren auch bei Frost ab. Sie sagen, die Städter fressen alles." Er beschrieb den Weg, und sie trennten sich, als kennten sie sich schon lange.
Die Gruppe Landarbeiter war sehr erstaunt, als die Reinshagener bei der leeren Feldscheune auftauchten, auf deren Tenne eine Kartoffelklapper stand und unermüdlich ratterte. Kastenwagen rollten die Kartoffeln von einer Miete heran.
Luise Becker ging auf den Erstbesten zu und sagte: "Wir möchten gern Kartoffeln kaufen."
Der lachte. "Kann glauben - gutt for Chungerr." Es war ein kriegsgefangener Russe. Er wies auf einen älteren Hageren, das sei der Vorarbeiter. Der Hagere tat sehr erstaunt, obwohl er den Trupp schon bemerkt hatte. "Wie habt ihr denn hierher gefunden?"
"Wir' haben einen netten Herrn getroffen, der hat gesagt, Sie würden uns Kartoffeln geben." Frau Hänsgen sagte es so sicher, dass es fast glaubhaft klang.
"Sicher der Inspektor", sagte der Landsturmmann, der die drei Russen bewachte.
"Der Inspektor?" Zweifelnd schob der Vorarbeiter seine Mütze auf dem Schädel hin und her. Einerseits war ihm die junge Frau sympathisch, andererseits hatte sie von einem netten Herrn gesprochen. Das konnte schwerlich der Inspektor sein. "Wie sah er denn aus?", erkundigte er sich.
Der Landsturmmann im Hintergrund machte Zeichen, und Frau Hänsgen beschrieb den nie gesehenen Inspektor. "Och Gott, so genau ist das schwer zu sagen, aber ein bisschen untersetzt, Schnurrbart, Brille, ungefähr vierzig Jahre."
Die Gefangenen, die Landarbeiter und -arbeiterinnen schmunzelten über das schlagfertige Persönchen.
Der Hagere wurde unsicher. "Ich weiß nicht, was die Kartoffeln kosten, Kinders. Eine Waage haben wir auch nicht hier."
"Wir zahlen Ladenpreis!" - "Dreißig Pfund in jedem Sack können wir schätzen", schallte es ihm entgegen.
"Wir würden sie sogar unsortiert nehmen", versicherte Frau Hänsgen.
Die Landarbeiter und die Gefangenen nahmen die letzten Sätze des Vorarbeiters als Zustimmung und begannen den Frauen die Säcke zu füllen. Niemand merkte, dass sich das Verhängnis näherte. Es sah weit biederer aus, als die Junker und ihre Inspektoren immer im "Wahren Jakob" dargestellt wurden. "Was geht hier vor?" Er brüllte es nicht einmal, aber seine Stimme war strenger als die paar Grad Frost.
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