Des Vorarbeiters lange Gestalt wurde plötzlich demütig. "Ich - äh - Herr Inspektor - verkaufe denen ein paar Kartoffeln, wie - wie Sie's gesagt haben."
"Nein, der Herr nicht, es war ein anderer netter Mann, so ähnlich sah er aus", kam Frau Hänsgen dem Vorarbeiter zu Hilfe.
Doch der echte Inspektor reagierte anders auf den Charme der jungen Frau, als es der Vorarbeiter Krischan getan hatte. "Schütten Sie die Kartoffeln wieder aus", verlangte er.
Bittend, klagend drängten sich die Frauen um ihn. Sein blasses, rundes Gesicht blieb unbewegt. "Ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf, sonst müsste ich Anzeige wegen Diebstahls erstatten."
"Wir wollen ja bezahlen!", rief Luise Becker.
"Alles ist abgerechnet, die Lore wartet."
"In der Miete sind viel mehr als 'ne Lore voll", wagte ein Landarbeiter einzuwenden.
Die Reinshagener zögerten noch immer, die Säcke wieder zu entleeren. Der Inspektor blieb sachlich, wurde nur einen Ton strenger: "Halten Sie mich nicht auf, schütten Sie die Kartoffeln wieder aus!"
Arturs Zorn drängte zur Entladung. Er trat auf den Inspektor zu. "In der Religionsstunde haben wir gelernt: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.' Wenn die Russen nach Hause kommen, können sie erzählen, wie sich die Deutschen geliebt haben."
Wortlos stand der Inspektor, sein Gesicht war einen Schein blasser geworden. Schweigend starrten die Menschen und sahen schon den Stock sich heben und auf den Jungen heruntersausen.
Der Inspektor drehte sich auf dem Absatz um und sagte im Fortgehen: "Verschwinden Sie mit Ihren Säcken und lassen Sie sich nie wieder hier sehen!"
Eilig füllte man die letzten Säcke der Reinshagener, band sie zu, und niemand beachtete mehr den Inspektor, der hinter einer Bodenwelle verschwand. Krischan und seine Leute nahmen kein Geld, denn der Inspektor hatte nichts von Bezahlen gesagt. Da ließen die Reinshagener eine gute Summe da, als Tabakgeld, auch für die Gefangenen. Fröhlich huckten alle auf und machten sich auf den Weg zur Bahnstation.
Gewitzt durch bittere Erfahrungen mit Gendarmen marschierten die älteren Jungen voraus, um die andern warnen zu können. Artur schwitzte trotz der Kälte, war aber guter Dinge. Die beiden Äpfel beulten seine Hosentaschen. Einen würde er Erika geben. Ein fernes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Misstrauisch blieb er stehen. Fiete und Wille hörten es auch. Es erinnerte an Trommelwirbel. Es schwoll an und ab, schien näherzukommen. Artur warf seinen Sack hinter einen Strauch und flitzte die Böschung hinauf. So sah er die Graugrünen zuerst. Sie kamen um die Kurve gejagt, hatten jetzt die höchste Erhebung der Chaussee erreicht.
"Lauft, Jungs", brüllte Artur, "berittene Landjäger!" Er selbst blieb oben und hastete am Waldsaum zurück. Öfter sah er sich um. Die Jungen hatten ihre Last mitten auf die Landstraße geworfen und rannten wie um ihr Leben. Das erste Pferd scheute vor den Säcken, ging mit den Vorderbeinen in die Höhe, und der Reiter sauste in den Chausseegraben. Die Anderen preschten weiter, und der herrenlose Gaul trabte ihnen nach. Fast gleichzeitig mit den beiden Jungen langten sie beim Haupttrupp an. Sie rissen ihre Pferde zum Stehen, dass die Funken stoben. Die Frauen und Mädchen schrien auf.
"Lasst das Geplärr", brüllte der Anführer, "kehrt marsch, und die Kartoffeln zurückgebracht!" Als habe er einen Feindtrupp eingebracht, klatschte er sich mit der Reitgerte auf die Schaftstiefel, "Mal 'n bisschen dalli. Zu vieren angestellt und dann ab durch die Mitte! - Hätte euch so passen können, Herrn Inspektor Siemsen auf die Tour zu beklauen."
Vor Wut und Enttäuschung presste Artur die Fingernägel in die Handballen. Was machst du bloß, was machst du bloß, dachte er in seinem Versteck hinter der großen Kiefer.
Die Frauen und Kinder standen neben den Säcken, verbissen, finster, einige weinten leise. "Wird's bald?", schnauzte der Graugrüne mit den silbernen Tressen.
Mit einer einzigen Bewegung riss Luise Becker ihren Rucksack hoch und schleuderte die Kartoffeln in den Chausseegraben. "Da habt ihr sie!" Die junge Frau Hänsgen tat es ihr sofort nach, und dann auch die anderen Frauen. "Bringt sie selbst zurück!" - "Habt ja schöne, starke Gäule!"
Der Betresste riss sein Pferd zu Luise Becker hin und hob die Reitpeitsche. "Wag es nicht!", kam es aus der Höhe, und der Angreifer ließ die Hand sinken. Er schaute nach oben und entdeckte den Jungen. Artur war außer sich und zu allem fähig, um die Mutter vor Schlägen zu schützen. "Frauen zu schlagen ... Knechte, feige Knechte!" Seine Stimme überschlug sich vor Wut.
Der mit der Reitpeitsche schäumte. "Absitzen!", befahl er. "Entsichern!" Nicht sehr schneidig kamen die Landjäger dem Befehl nach. Es ärgerte den Rasenden. Diesem Schreihals musste man einen Schreck einjagen. "Anlegen!", brüllte er.
Ein Landjäger kam von der Stelle des Sturzes geritten.
"Herr Wachtmeister", rief er, "Kamerad Dumski ist tot!"
Plötzlich herrschte Stille. Es war, als könne man das Knistern der zunehmenden Kälte hören. Ohne Befehl preschten die Landjäger zurück. Das Pferd des Gestürzten stand mit schleifendem Zügel und knabberte an einem Kohlkopf.
Die Reinshagener erwachten aus der Erstarrung.
"Kommt rauf, und dann fort!", rief Artur. Hastig krochen alle die Böschung hinauf. Die Jungen halfen den Frauen, die Frauen den Mädchen. "Dicht hintereinander!" Die Arme schützend vor das Gesicht haltend, tauchte Artur als Erster in das Dickicht einer Tannenschonung. Bald kamen sie auf einen Jagenweg, den später ein Fahrsteig kreuzte.
"Unsre schönen Kartoffeln", klagte die junge Frau Hänsgen, "hätten wir nicht ..." Artur unterbrach sie: "Wenn der Landjäger wirklich tot ist, sagen sie, Fiete und Willem haben die Säcke hingeschmissen, damit er sich den Hals bricht."
Es begann zu dämmern. Luise Becker mahnte zur Eile. Borbachs hielten sich bei den Beckers. In Erikas Augen war noch immer der Schreck zu lesen. Artur gab ihr einen Apfel. "Für euch beide." Den andern brach er durch und gab der Mutter eine Hälfte. Erika hängte sich bei ihm ein, presste ihr Gesicht gegen seinen Arm. Verlegen brummelte er: "Iss - nachher sieht alles schon anders aus."
"Ich kann jetzt nicht."
Er legte brüderlich seinen Arm um ihre Schulter. Links und rechts gingen die beiden Mütter und schauten geradeaus.
Ohne Zwischenfälle erreichte die Gruppe den Heimatbahnhof. Als Beckers und Borbachs sich verabschiedeten, hielt Erika noch den Apfel in der Hand. Verstohlen fuhr ihr Artur übers Haar. "Sei nicht mehr traurig."
Bei Beckers war man in Sorge. Längst war die Essenszeit vorüber. Frau Wiesflecker hatte Jenny, die sie öfter verwartete, zurückgebracht. Als Mutter und Sohn in die Wohnung traten, empfing man sie mit aufgeregten Fragen. Luise Becker sank auf ihren Stuhl am Küchentisch, legte den Kopf auf die Arme und weinte.
So hatte Artur die Mutter noch nicht gesehen. Es erschütterte ihn mehr als alles andere an diesem Tag.
Er konnte lange nicht einschlafen. Wachträume quälten ihn. Er sah Karabinerläufe auf sich gerichtet. Die Kugeln töteten ihn lautlos, und als er umsank, erblickte er die weinende Mutter.
David und Goliath
Jeden Morgen vollzog es sich völlig gleich, exakt und minutiös. Neblich trat ins Klassenzimmer, die Kinder sprangen auf, wie an einer Schnur gezogen, und rasselten herunter: "G-u-t-e-n M-o-r-g-e-n, H-e-r-r L-e-h-r-e-r!"
"Setzen!", befahl Neblich, trat an die vorderste Bank und sah auf seine gefalteten Hände herab. "Wir beten!", sagte er, ohne den Blick zu heben. Alle Geräusche verstummten, und jeder bemühte sich so zu tun, als verharre er wirklich in stillem Gebet.
Während Neblich feierlichen Schritts das Katheder bestieg, die Bibel aufschlug und seinen Stuhl zurechtstellte, rechnete er jedes Mal mit geheimen Sündern ab. "Otto Wagenseil, was suchtest du unter der Bank? Ohne gefaltete Hände bringt man keine Andacht auf. Wegen mangelnden Antriebs, mit Gott stille Zwiesprache zu halten, wird er dich durch Missachtung strafen. Stell dich mit dem Gesicht zur Wand."
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