Damit war der Fall abgetan. Es war eine harte Strafe, und jeder fürchtete sie. Eine Stunde stehen müssen, war dabei geringer zu veranschlagen, als vom interessantesten Unterricht ausgeschlossen zu sein, den es zweimal in der Woche gab. All die Jahre bisher war Neblich nicht von seinem Prinzip abgewichen, ohne Schläge zu regieren. Er strafte immer kühl und im Einverständnis mit Gott. Er schien wirklich stark durch seinen Glauben. Wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, tief versunken zu beten und trotzdem am Ende der stillen Erbauung zu wissen, wer gesündigt hatte?
Was Artur an Neblich bewunderte, war dessen Vortragskunst. Neben Geschichte war deshalb Religion sein liebstes Fach. Darin war er der aufmerksamste Schüler und zugleich der unbequemste. Begierig nahm er die Geschichten der Bibel auf, ähnlich wie die der deutschen und griechischen Heldensagen, doch wie bei jenen, fand er auch bei diesen oft ein Haar in der Suppe.
An diesem Tage schlug Neblich die Seiten Samuels auf und begann die Geschichte von David und Goliath vorzutragen. Sie war wunderschön als Gleichnis geeignet. Deutschland gegen eine Welt von Feinden. Es galt zu zeigen, dass der scheinbar Schwächere doch siegen könne, wenn er nur wolle - und Gott ihm helfe.
Die Klasse lauschte hingegeben: Riesenstarker Bösewicht höhnt die Gerechten. Und die - furchtsam und kleinmütig - wagen nicht, den Lästerer zu strafen. Schier unerträglich wird der Hohn des Goliath, aber die Gedemütigten schätzten die eigene Haut höher als alles Gottvertrauen. Da erscheint ein Jüngling, kaum dem Knabenalter entwachsen, erbietet sich, den Unhold zur Strecke zu bringen. Er erntet mitleidiges Gelächter. Aber er lässt nicht locker, bis man ihn vor König Saul bringt. Auch der misstraut dem Jüngelchen. David berichtet von besiegten Bären und Löwen als Beweis starken Gottesbeistands. Endlich gibt Saul die Erlaubnis zum Zweikampf, dazu sein Schwert und die eigene Rüstung. Alle zittern um den Waghalsigen, doch der legt Panzer und Schwert beiseite, tritt dem Riesen als ungeschützter Hirtenknabe entgegen. Goliath trieft vor Hohn - das flinke Mundwerk Davids bleibt ihm nichts schuldig. Der Bengel ist nicht nur witzig, sondern auch intelligent. Zweikampf ist Zweikampf, und es war nicht ausgemacht, wie er auszutragen sei. Jedenfalls berichtet die Bibel nichts darüber. David macht es sich zunutze. Er erledigt seinen Gegner aus der Distanz.
Neblich hob an dieser Stelle skandierend die Stimme. Die Klasse genoss aufgeregt die Szene: "Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte, und traf den Philister an seine Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht."
Danach machte Neblich eine wohlberechnete Pause, um zum Finale zu kommen: "Also überwand David den Philister, mit der Schleuder und mit dem Stein und schlug ihn und tötete ihn. Und da David kein Schwert in seiner Hand hatte, lief er, und trat zu dem Philister, und nahm sein Schwert, und zog's aus der Scheide, und tötete ihn und hieb ihm den Kopf damit ab. Da aber die Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen sie."
Neblich legte die Bibel hin. Aufatmendes Gemurmel raunte durch die Klasse. Während der Lehrer mit einem blütenweißen Taschentuch feinen Schweiß von seinem Gesicht tupfte, lächelte er wohlgefällig ob der allgemeinen Zustimmung.
Mit der letzten Schweißperle wischte er Lächeln und Applaus fort und wurde pädagogisch: "Warum konnte David ein Held sein?"
Arturs Finger schoss in die Höhe. "Weil er mutig war!"
Neblich hätte lieber gehört: weil er auf Gott vertraute. Er verbarg seine Enttäuschung und sagte: "Mut hat Goliath auch gehabt."
"Der wusste ja, dass ihm nichts passieren kann, denn er war der Stärkere", widersprach Artur. "Ihm i st aber doch etwas passiert."
"Nur weil David schlauer war als alle um König Saul. Er ließ den Riesen gar nicht erst an sich herankommen."
Neblich wurde unruhig und ließ sich zu der Frage verleiten: "Was ist denn Mut, deiner Meinung nach?"
Durch die Geschichte angeregt, erwiderte Artur unbefangen: "Mut ist, wenn einer weiß, er ist schwächer, aber trotzdem hingeht und kämpft."
"Siehst du", triumphierte Neblich, "und er kann es nur tun, weil er weiß, dass Gott mit ihm ist."
Zu deutlich erinnerte sich Artur seines Kampfes gegen Alois. Da hatte er gesiegt, ohne den lieben Gott belästigt zu haben. "Aber mancher sagt sich, man muss etwas tun für das Richtige, und wenn er es mit der Stärke nicht schafft, muss er eben schlauer sein." David war Arturs Mann, und er fühlte sich verpflichtet, dessen Mut gebührend zu feiern.
Gereizt durch Arturs Beharrlichkeit, versuchte Neblich noch einmal, ihn in die Enge zu treiben. "Herkules nennt man doch auch mutig, obwohl er mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist."
Die Frage- und Antwortspiele mit Vater zahlten sich jetzt aus, das übte, schlagfertig zu sein. "Wie konnte dann Herkules Gottvertrauen haben? Er war doch ein Heide und glaubte an Zeus und viele andere Götter."
Neblich klappte die Bibel zu, trat zu Artur und fuhr ihm versöhnlich übers Haar. "Wir werden noch darüber reden."
Er hielt sein Versprechen nicht. In der nächsten Religionsstunde brachte er die Geschichte Davids zu Ende, ohne auf die Diskussion über den Mut einzugehen. Artur ließ es dabei bewenden. Er hatte inzwischen mit dem Vater gesprochen. "Pass Obacht", hatte der geantwortet, "mit dem David hat Neblich sich in die Nesseln gesetzt, der passt für uns besser als für sie."
"Ob David auch zu Goliath gegangen wäre, wenn er die List mit der Schleuder nicht ausgeknobelt hätte?"
Vater scheuerte nachdenklich sein Stoppelkinn. "Wie ich den David sehe, nein. Das ist wie mit uns: Die Arbeiter dürfen sich den Zeitpunkt und die Waffen nicht verschieben lassen."
Die Antwort war Artur zu allgemein, ihm ging es um den Kampf von Mann zu Mann. Deshalb fragte er: "Wenn ein Schwächerer einen Zweikampf wagt, ohne sich vorher was auszudenken, wie mit der Schleuder, ist der dann kein Held?"
"Dann ist er ein Märtyrer; aber wir halten nichts davon. Manchmal allerdings lässt einem das Leben keine Zeit zum Überlegen. Da muss man sich seiner Haut wehren, so gut es geht. Wer dann nicht kneift, ist bestimmt ein Held."
Artur musste an die Flucht vor den Landjägern denken. "Und wer ausrückt, ist keiner?"
Vater Becker wurde kribbelig. "Bengel, du kannst einen aber zwiebeln. Es kommt auch mal vor, dass sich ein Held zurückzieht, weil - ja - hm ... "Er dachte angestrengt nach. "Er zieht sich zurück, nicht, um die eigene Haut zu retten, sondern weil es seiner Sache mehr nützt, er muss immer die gute Sache über seine Person stellen, muss auch mal feige scheinen können. Das ist die schwerste Tapferkeit."
Artur starrte vor sich hin.
Der Vater kniff ein Auge zu und legte den Zeigefinger an die Nase. "Das Leben ist doch kniffliger, als die euch in der Religionsstunde weismachen wollen."
Das hatte Artur auch schon bemerkt, und er stimmte dem Vater zu. "Der eine sagt, Goliath ist stärker; der andere sagt, David ist stärker. Wer hat nun recht?" fragte Walter Becker.
Artur scheuerte sich unentschieden die Stirn. Der Vater erklärte: "Keiner. Man muss sagen, wenn David vorher alles bedenkt und es richtig anpackt, wird ihn die Schleuder zum Stärkeren machen."
Artur riss die Augen auf, sodass sich der Vater beeilte zu sagen: "Nichts ist einfach so, sondern es ist immer so und so."
Es war schwierig, doch dem Vater zuliebe dachte Artur nach, dass ihm fast der Kopf wehtat. Walter Becker sah es ihm an und brachte ein neues Beispiel. "Da sagt man so hin, Eisen schwimmt nicht. Natürlich, ein Stück Eisen geht unter - aber ein Eisentopf schwimmt. Stimmt's?"
Das ging ein. Erfreut über eine neue Erkenntnis hatte Artur Spaß an dem einfachen Beispiel.
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