1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Die beinahe baumlose Insel bot ihren Besuchern kaum schattige Plätze. Nur hinter großen Felsen konnte Ewen sich etwas der Sonneneinstrahlung entziehen. Er war kein Sonnenanbeter, und mit seiner hellen Haut neigte er rasch zu einem Sonnenbrand. So suchte er immer wieder gerne den Schatten auf.
Er war beeindruckt von dem herrlichen weichen Küstenrasen der Insel, der übersät war von rosa Strandnelken, blauem Grindkraut und weißen Gänseblümchen, die die Luft betörend parfümierten und die Insel verzauberten.
Die Landschaft und das Naturschauspiel hatten Ewen von den Ereignissen des vergangenen Tages abgelenkt. Er genoss die frische Luft und das Rauschen des Meeres. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihnen, dass sie schon mehr als vier Stunden unterwegs waren. Der Küstenweg nahm deutlich länger Zeit in Anspruch, als sie für die zweieinhalb Kilometer gerechnet hatten, die die Halbinsel maß. Carla schlug vor, den Rückweg nicht entlang des Küstenweges zu gehen, sondern die kleine Straße zu nehmen, die durch die Weiler Kerandraon, Feunteun Vélen und Toulallan verlief. Die Straße führte beinahe luftlinienartig über die Halbinsel, so dass sie bestimmt in einer dreiviertel Stunde im Hotel angekommen sein würden.
Sie hatten vielleicht einen knappen Kilometer zurückgelegt, als sie sich Kerandraon näherten. Ewen blieb wie angewurzelt stehen und fixierte eine Person, die etwa 200 Meter von ihnen entfernt die Straße überquerte.
„Das ist doch Marie, Marie Le Goff.“ Carla sah in die angedeutete Richtung und konnte gerade noch erkennen, wie eine Person in einem der Häuser verschwand.
„Hast du sie gesehen?“, fragte er Carla, die noch nichts gesagt hatte.
„Es ging mir zu schnell, Ewen, ich habe nur eine Person gesehen, die in einem Haus verschwunden ist. Ich könnte dir nicht sagen, wer es gewesen ist. Hast du denn ihr Gesicht erkannt?“
„Ich bin mir sicher, dass es Marie gewesen ist. Komm, wir gehen zu dem Haus.“
„Ewen, bitte lass das, wir sind im Urlaub.“
„Ich will doch nur sehen, ob ich mich getäuscht habe.“
Ewen ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Zielstrebig ging er in die Richtung des Hauses, in das er die Person hatte verschwinden sehen.
Am Briefkasten stand der Name Berthelé. Ewen näherte sich der Haustür. In dem Augenblick wurde sie aufgerissen, und ein etwa siebzigjähriger Mann erschien in der Türöffnung.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er Ewen, der knapp drei Schritte vor ihm stand.
„Oh ja, das können Sie. Mein Name ist Ewen Kerber und das“, er zeigte auf Carla, die auf der Straße stehen geblieben war, „ist meine Frau Carla. Wir erholen uns einige Tage auf der Insel. Auf der gestrigen Überfahrt haben wir ein junges Ehepaar kennengelernt, Marie und Jean Le Goff. Bei unserem Spaziergang gestern Nachmittag ist uns ihr junger Mann entgegengerannt gekommen und hat, dass seine Frau Marie abgestürzt sei. Vor wenigen Minuten habe ich den Eindruck gehabt, die abgestürzte Marie Le Goff gesehen zu haben, wie sie in ihr Haus gegangen ist.“
„Marie Le Goff, ich kenne niemanden mit diesem Namen. Bei uns im Haus lebt keine Marie. Meine Frau Nolwenn und ich leben hier alleine.“
„Aber ich habe eine junge Frau gesehen, sie hat ein blaues Kleid getragen. Sie ist höchstens Ende zwanzig gewesen.“
Ewen ließ nicht locker. Er spürte, dass der Mann ihm nicht die Wahrheit sagte.
„Wenn ich Ihnen sage, dass wir hier alleine leben, dann sollten Sie mir das schon abnehmen. Ich will nicht unhöflich, sein aber ich muss mich jetzt um meine Schafe kümmern!“
Der Mann ließ Ewen stehen und ging ums Haus herum zu seinem Stall. Ewen drehte sich um und ging zu Carla.
„Der Mann lügt!“
„Wir können uns doch auch getäuscht haben“, meinte Carla einlenkend.
„Ich habe mich nicht getäuscht, da bin ich sicher. Vielleicht ist es nicht Marie gewesen, aber es ist eine junge Frau ins Haus gegangen. Warum lügt der Mann?“
Carla und Ewen hatten beinahe das Hotel erreicht, als sein Handy klingelte. Carla war erstaunt, sein privates Telefon klingelte nur selten. Ewen nahm das Gespräch an.
„Hallo, Paul, es ist schön, deine Stimme zu hören.“
Ewen sah zu Carla und zuckte mit den Achseln, um ihr zu signalisieren, dass er keine Ahnung hatte, warum Paul Chevrier ihn anrief.
„Ewen, es tut mir leid, euch im Urlaub zu stören, aber wir haben gestern von der Gendarmerie aus Trégunc eine Meldung hereingereicht bekommen. Auf eine junge Frau, Marie Le Goff, sind zwei Mordanschläge verübt worden und sie hat einen Drohbrief erhalten. Die Gendarmerie hat die Angelegenheit zuerst nicht so ernst genommen. Erst als der Drohbrief eintraf, hat man uns benachrichtigt. Jetzt haben wir erfahren, dass die Frau mit ihrem Mann auf die Île d´Ouessant gefahren ist. Ich habe sofort an dich gedacht. Hast du zufällig etwas von den Beiden gehört?“
„Und ob! Aber das ist jetzt eine längere Geschichte. Ich bin gerade auf den Weg zurück ins Hotel. Kannst du mich in einer Stunde noch einmal anrufen, dann können wir ausführlich darüber reden.“ Ewen legte auf und sah Carla an.
„Es ist mir schon klar, dass unser Urlaub jetzt zu Ende ist.“
„Nein, Carla, auf keinen Fall. Ich werde Paul nur schnell informieren, er hat einige Fragen, weil er gestern erfahren hat, dass auf Marie Le Goff bereits zwei Anschläge verübt worden sind.“
„Wenn du erst einmal damit anfängst, dann hörst du nicht mehr auf, ich kenne dich Ewen.“
„Ich werde mich bestimmt zurückhalten. Ich will unseren Urlaub doch auch genießen.“
Ewen war auch klar, dass Carla Recht hatte. Er liebte und lebte seinen Beruf. Dennoch wollte er Carla den Gefallen tun und einige erholsame Tage mit ihr verbringen. Er würde sich Mühe geben, sich möglichst zurückzuhalten und die Lösung des Falles, seinen Kollegen Gilles Roudaut und Paul Chevrier zu überlassen, wenigstens für einige Tage.
Ewen und Carla trafen im Hotel ein. Ewen ging in die Bar und bestellt sich ein Glas Rosé. Der Wirt sah ihn etwas befremdlich an.
„Rosé, Monsieur Ewen? Ich habe keine Flasche kalt gestellt. Im Herbst wird er zu selten verlangt.“
„Bitte öffnen Sie mir eine Flasche. Ich trinke Rosé sehr gerne, auch im Herbst, und ich verspreche Ihnen, die Flasche in den nächsten Tagen zu leeren.“
Der Wirt nickte und ging an die Theke. Als Ewens Telefon klingelte, stand das Glas Rosé bereits vor ihm, und er hatte den ersten Schluck genossen.
„Paul, jetzt habe ich Zeit, mit dir zu sprechen. Was hat es mit diesen Anschlägen und Drohungen auf sich?“
„Nun, wie ich dir vorhin schon kurz geschildert habe, ist auf Marie Le Goff zweimal ein Anschlag verübt worden, und sie hat eine Morddrohung erhalten. Ihr Mann hat in der Gendarmerie die Nachricht hinterlassen, dass sie für einige Tage auf die Île d´Ouessant fahren würden. Das ist mein Wissensstand. Jetzt würde ich von dir gerne hören, ob es dir möglich ist, mit ihr zu sprechen. Du hast vorhin angedeutet, dass du die Frau kennengelernt hast.“
„Stimmt, ich habe die beiden Le Goffs auf der Überfahrt nach Ouessant kennengelernt. Wir haben uns am Tisch unter Deck gegenübergesessen, und Carla ist mit der jungen Marie Le Goff ins Gespräch gekommen. Nach der Ankunft in unserem Hotel haben wir einen ersten Spaziergang über die Insel unternommen, das haben die Le Goffs wohl auch gemacht, denn als wir uns dem Leuchtturm, Phare du Creac´h, genähert haben, ist uns Jean Le Goff entgegengerannt gekommen und hat um Hilfe gebeten. Er hat erzählt, dass seine Frau abgestürzt sei, und er ihr nicht helfen konnte. Ich habe den Notruf informiert, und nach wenigen Minuten sind Retter vor Ort gewesen. Doch dann ist die Überraschung gekommen. Sie haben Marie Le Goff nicht finden können.“
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