Der Weg führte sie vom Leuchtturm weg. Sie gingen in Richtung der südwestlichen Spitze der Insel. Sie kamen an türkisfarbigen Buchten vorbei, die am Fuße der steilen Granitwände lagen. Die hohen Felsen waren hier oben über und über mit Heidekraut bewachsen und bildeten einen wundervollen Kontrast zu dem darunter liegenden blaugrünen Wasser. Immer wieder stachen Felsen wie spitze Nadeln aus dem Wasser heraus und verliehen der Küste ein bizarres Aussehen. Aus der Entfernung wirkten manche der Felsformationen wie eine Mondlandschaft. Es war eine wunderbare, wilde naturbelassene Küste, die sie in dieser Art bisher nicht gesehen hatten. An der Point du Raz hatten sie auch eine wilde Küste bewundern können aber diese hier übertraf alles bisher Erlebte.
Der Boden und das Gras auf dem sie spazierten waren herrlich weich, und sie hatten das Gefühl auf einer Schaumstoffmatte zu gehen. Bei jedem Schritt gab der Boden angenehm nach. Es war eine Erholung für die Füße. Mehr als einmal hatte Ewen die Überlegung angestellt, sich einfach auf dieses weiche Gras zu legen, den Blick übers Meer schweifen zu lassen und seinen Träumen nachzugehen. An der Point de Pern angekommen, legte er sich auf das wunderbare weiche Gras und ließ seinen Blick über den mit Heide bewachsenen Boden, die Felsformationen und das Wasser schweifen, bis zum Leuchtturm von Nividic . Carla setzte sich zu ihm, auch sie genoss diesen wunderbaren weichen Untergrund. Auf dem Rückweg kamen sie an der Chapelle Notre-Dame de Bon Voyage vorbei, passierten zwei kleine Windmühlen und kleinere Siedlungen, die man auf dem Festland eher als Ansammlung von einigen Gehöften bezeichnet hätte, und gingen wieder zurück zum Leuchtturm.
Ewen bat Carla, ihn noch einmal zur Absturzstelle zu begleiten, damit er mit seinem Kollegen aus Brest, der bestimmt schon eingetroffen sein müsste, sprechen könnte. Carla wurde etwas missmutig bei dieser Bitte, sie fühlte, wie der Urlaub zu verschwinden drohte und Ewen in den nächsten Kriminalfall hineinglitt. Als sie sich der angeblichen Absturzstelle näherten, sah er den Hubschrauber auf der Wiese stehen und seinen Kollegen Gilles Roudaut an der Klippe auf und abgehen. Ewen bat Carla um Verständnis und eilte auf den Kollegen zu.
„Bonjour Gilles!“, sagte Ewen und reichte ihm die Hand.
„Du bist schneller zurück, als ich dachte!“, meinte Gilles und gab Ewen die Hand.
„Ich habe mir die Stelle bereits angesehen. Wie du am Telefon schon gesagt hast, es gibt keinerlei Spuren, die auf einen Absturz der Frau hinweisen. Ihr Mann spricht immer von einem Unfall, und dass er seiner Frau nicht hat helfen können und Hilfe geholt hat. Ich bin der Meinung, dass er uns etwas vormacht. Die Frau ist hier nicht abgestürzt. Ich habe vorhin noch mit der Seenotrettung gesprochen. Ihr Rettungsboot und ein Hubschrauber sind dabei, die Küste abzusuchen. Bis jetzt hat die Suchmannschaft keinerlei Spuren entdecken können, geschweige denn eine Leiche gesichtet. Die See ist allerdings ziemlich aufgewühlt, sagt der Pilot, mit dem ich gerade telefoniert habe.“
„Ich habe mir so etwas schon gedacht“, erwiderte Ewen und schien nachzudenken, dann meinte er:
„Ihr müsst wohl eine Untersuchung einleiten und Jean Le Goff zum Verhör nach Brest mitnehmen.“
„So ist es, wir müssen davon ausgehen, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat.“
Ewen verabschiedete sich von seinem Kollegen, Gilles Roudaut, und ging zu Carla zurück, die etwas angespannt auf ihn wartete. Auf dem weiteren Rückweg erklärte Ewen ihr die aktuelle Situation, und sie diskutierten über das Verschwinden von Marie Le Goff. Er vergaß nicht hinzuzufügen, dass sowohl sein Kollege Roudaut, als auch er erhebliche Zweifel an Jean Le Goffs Schilderung über den Vorfall hatten.
Marie und Jean Le Goff verließen nach dem Anlegemanöver das Schiff Fromveur II und gingen zu den Navettes. Marie nahm noch wahr, wie der Kriminalkommissar und seine Frau in eine andere Navette einstiegen. Marie nannte dem Fahrer den Namen des Hotels, La Duchesse Anne im Ortsteil Lampaul, und stieg mit Jean ein. Auf so einer kleinen Insel dauern die Taxifahrten nicht lange. Schon nach wenigen Minuten hielt die Navette vor der Unterkunft, in der sie sich in den nächsten Tagen aufhalten würden. Sie stiegen aus und betraten das Hotel.
Während Jean voranging, sah Marie sich auf der Straße vorsichtig um. Ihr Blick ging von rechts nach links, so als suchte sie etwas ganz Bestimmtes, das sie aber nicht erblicken konnte. Nach erneutem Umsehen betrat Marie das Hotel. Jean stand bereits an der Rezeption und füllte den Meldebogen aus. Die Frau an der Rezeption lächelte ihr freundlich zu.
„Zimmer drei haben wir für Sie reserviert“, sagte die Dame und reichte Jean den Zimmerschlüssel. Chipkarten hatten hier noch keinen Einzug gehalten. Jean und Marie gingen über die Treppe in den ersten Stock. Ihr Zimmer lag nach hinten hinaus, in südwestlicher Richtung. Die Abendsonne würde in ihr Zimmer scheinen.
„Was hast du jetzt vor, Marie?“, fragte Jean, nachdem er die Reisetasche abgelegt und die Tür hinter Marie sorgfältig verschlossen hatte.
„Ich habe mir noch keinen Plan zurechtgelegt, Jean. Ich weiß nur, dass ich mich hier auf der Insel sicherer fühle als in Melgven. Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mich zu verstecken. Ich kenne mich gut aus und kenne viele Menschen, denen ich vertrauen kann.“
„Aber du weißt doch überhaupt nicht, vor wem du dich verstecken musst. Wir wissen doch nur, dass dir jemand nach dem Leben trachtet. Woher willst du wissen, wem du vertrauen kannst?“
„Ich glaube einfach, dass mir die Menschen, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne, nichts antun wollen, und diese Menschen leben hier auf der Insel.“
„Wir müssen versuchen herauszufinden, wer hinter diesen Anschlägen steckt. Wir müssen wissen warum jemand deinen Tod will. Welche Gründe gibt es dafür?“
„Aber Jean, woher soll ich das wissen? Ich habe doch niemandem etwas getan. Was soll es denn für Gründe geben?“
„Nun, vielleicht hast du jemanden bloßgestellt, beleidigt, einem Schüler schlechte Noten erteilt. Es gibt tausend Gründe, warum Menschen durchdrehen und auf Rache sinnen.“
„Ach Jean, ich bin erst seit zwei Jahren als Lehrerin tätig. Jedes Kind meiner Klasse hat das Klassenziel bisher erreicht. Ich habe mehrfach mit allen Eltern gesprochen, und niemand hat sich mir gegenüber negativ geäußert. Ich habe auch niemandem etwas Böses gesagt oder eine Beleidigung ausgesprochen. Das kann alles nicht die Ursache sein. Ich weiß es einfach nicht!“
„Hmmm, vielleicht hast du etwas geerbt, und jemand möchte dir die Erbschaft streitig machen?“
„Ich habe keine reichen Verwandten. Wer soll mir etwas vererben, so dass es sich lohnen würde, einen Menschen zu töten? Meine Eltern sind schon lange tot.“
„War ja auch nur ein Gedanke.“
Jean setzte sich neben Marie auf das Bett. Zärtlich legte er seinen Arm um ihre Schulter und zog sie sanft an sich. Was Marie jetzt brauchte, das war Ruhe, das Gefühl von Geborgenheit und Abstand zu den Ereignissen der vergangenen Wochen.
Alles hatte mit einem Anruf angefangen, den Marie entgegengenommen hatte. Der Anrufer sagte, dass sie sich in Acht nehmen sollte, er sei ihr auf den Fersen und würde sie schon kriegen. Marie hatte verwirrt aufgelegt und den Anruf als einen schlechten Scherz angesehen. Zwei Tage später, Marie war auf dem Weg von der Schule zurück zur Wohnung, kam ein Auto auf sie zugerast, und es hatte den Anschein, als sollte sie überfahren werden. Marie konnte sich nur durch den Sprung in eine Hecke retten. Das Kennzeichen des Fahrzeugs hatte sie sich in der Aufregung nicht gemerkt. Als Jean am Abend nach Hause kam, erzählte sie ihm von dem Vorfall. Jean rief die Gendarmerie in Trégunc an und berichtete dem Gendarmen von dem Geschehen.
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