Wie Wills Mutter schien auch Debbie keineswegs überrascht, von einem wildfremden Menschen angerufen zu werden. Sofort bot sie an, mich vom Flughafen Miami abzuholen. Sie gab mir eine Beschreibung von sich und wir machten einen Treffpunkt aus.
Am nächsten Tag saß ich im Flieger. Amerika ist groß. Der Flug dauerte über drei Stunden.
Meine Sitznachbarin, eine ältere Dame, fragte mich aus, wer ich sei, was ich in ihrem Land suche, stolz über ihren Kontakt zu einer jungen Europäerin. Offensichtlich war ich ihr sympathisch, sie gab mir ihre Adresse und forderte mich auf, unbedingt bei ihr Einkehr zu halten, wenn ich in Palm Springs vorbeikommen sollte.
Ich steckte den Zettel in meine Handtasche und versprach, bei Gelegenheit darauf zurückzukommen.
Nach der Landung in Miami traf ich auf Debbie. Mit einem riesigen, alten Rover holte sie mich ab.
Auf dem Weg registrierte ich, Miami ist eine Geschäftsstadt voller Wolkenkratzer, eine lückenlose Reihe von Hotelbauten versperrt den Zugang zum Strand. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Kaum in Debbies Apartment angekommen, zeigte sie mir Kühlschrank und Bad und teilte mir mit, sie müsse noch weg. „Feel at home and help yourself.“ Damit ließ sie mich allein. In Deutschland würde man einen fremden Menschen nicht bei sich in der Wohnung lassen. Hatte sie so viel Vertrauen zu mir oder war das eher Gleichgültigkeit?
Gegen Abend kam sie zurück, duschte, stylte ihre kurzen Haare, kleidete sich exklusiv in Schwarz, schminkte ihre Augen pechschwarz, Lippen dunkelrot und fuhr mit mir in eine Undergrounddisco. Eine Punkband spielte, zu laut zum Reden.
Beim Heimkehren zeigte sie mir, wo ihr Fahrrad zu finden sei, erklärte den Weg zum Beach, notierte die Telefonnummer ihrer Arbeitsstelle, falls Probleme auftauchen sollten, und ging zu Bett.
Ich rollte mich auf der Schlafcouch im Wohnzimmer in meinen Schlafsack und ließ den Tag Revue passieren. Debbie war wirklich freundlich, ich konnte mich nicht beklagen, aber irgendetwas fehlte mir trotz ihrer Offenheit und Gastfreundlichkeit, vielleicht war es Wärme.
Als ich erwachte, war sie fort. Voller Entdeckerlust eilte ich hinunter zum Fahrrad und radelte die Straße entlang, breit wie eine Autobahn, ohne Kurven, schnurgeradeaus.
Ein Hypermarkt erregte meine Aufmerksamkeit. Der Laden machte seinem Namen alle Ehre, ein Areal von der Grundfläche eines Dorfes, vorneweg ein gigantischer Parkplatz. Drinnen verirrt man sich zwischen endlosen Regalen. Unfassbar, wie viele Sorten Chips es geben kann, wie viele verschiedene Müslis. Allein die Knabberabteilung, so groß wie in Deutschland ein gesamtes Geschäft. In den Reihen mit Brot entdeckte ich Schwarzbrot. Sah zwar nicht aus wie bei uns, war ungewöhnlich weich, aber immerhin schwarz. Ich nahm ich es mit. Später entlarvte ich es als ganz normales, mit Zuckercouleur dunkel gefärbtes Weißbrot. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ja, da ist was dran.
In der Mittagshitze bestieg ich meinen Drahtesel, fuhr die Straße bis zum Ende durch und landete am Strand. Der Atlantik empfing mich mit klarem Hellblau. Aufgeheizt von der Sonne und vom Radfahren, freute ich mich auf das kühle Nass.
Doch oh! Was ist das? Null Temperaturunterschied. Das Wasser exakt so warm wie die Luft. In dieser riesigen Badewanne plantschte ich ausgelassen herum. Bis ich eine Filmszene erinnerte, in der ein Hai einem Menschen das Bein abbiss. Vorbei war's mit meiner Unbeschwertheit. Erschrocken hielt ich inne, inspizierte umsichtig die Meeresoberfläche. Ich war allein im Wasser, schwamm zügig an Land und legte mich in den Sand.
Ein junger Amerikaner gesellte sich zu mir, tat freundlich, war mir aber unangenehm. Als er begann, aufdringlich zu werden, packte ich meine Sachen und floh zu meinem Fahrrad.
Bestürzt stellte ich einen platten Reifen fest. Am Rad befand sich keine Luftpumpe. Weit und breit kein Radfahrer zu sehen, der mir eine Pumpe leihen könnte, schob ich es zur nächsten Telefonzelle und rief Debbie an. Sie blieb cool, holte mich ab und brachte mich nach Hause. Das war mir sehr unangenehm. Trotz ihrer Hilfsbereitschaft fühlte ich wieder diese unpersönliche Kühle. Gleich darauf kehrte sie zurück zur Arbeit. Ich überlegte, was ich tun könnte, um mobil zu werden. Auto mieten stand außer Frage, ich besaß keinen Führerschein mehr.
Abends erzählte ich Debbie von meinem Problem.
„Das ist kein Problem“, widersprach sie, „du holst dir einfach einen amerikanischen Führerschein. Wenn du sowieso schon fahren kannst, brauchst du nur den Fahrtest zu bestehen. Fertig.“
Ordentlich herausgeputzt besuchten wir eine andere Diskothek. Auch hier wurde Live-Musik gemacht, aber wie! Die Band glänzte nicht nur mit exzellentem Spiel, sondern beeindruckte zusätzlich mit einer ausgetüftelten Tanz-Show. Derart Professionelles siehst du in Deutschland in großen Sälen, nicht aber in einer gewöhnlichen Disco. In der Pause konnte ich ein Wort mit den Musikern wechseln. Sie machten das hier jeden Abend, drei Stunden Liveact, hochgradig anstrengend. Die ganze Band bekam dafür zu wenig Geld, als dass der Einzelne davon leben konnte. Unglaubliche Verhältnisse.
Anderntags begab ich mich zur Fahrschule, einem Gebäude mitten auf einer weitläufigen, asphaltierten Fläche, unterbrochen von Kantsteinen zum Einparken. Ein Prüfer setzte sich mit mir in einen der großen Amischlitten, dirigierte mich hundert Meter geradeaus, eine Kurve zu drehen und zwischen zwei Autos einzuparken. Zufrieden nickte er. Innerhalb von zehn Minuten hielt ich einen frisch gedruckten, amerikanischen Führerschein in der Hand, für ganze fünfzig Dollar. Juchhu!
Fröhlich schmiedete ich Pläne, ganz Florida zu durchqueren und mir berühmte Stätten anzusehen.
Ich mietete ein kleines Auto und machte mich auf den Weg, zunächst nach Palm Springs zu der älteren Dame aus dem Flugzeug. Natürlich wollte ich sie besuchen, denn Amerika kennenlernen hieß für mich auch, zu erfahren, wie die Einwohner in ihren Behausungen leben, welchen Flair sie darin verbreiten.
Die Frau wohnte in einer Anlage, zu der man ausschließlich Zugang durch eine Schranke erhielt. Dieses Privileg der Abgeschirmtheit gehörte nur den Reichen. Von einer Telefonzelle aus rief ich an. Niemand nahm ab. Ich parkte vor dem Haus auf der Straße und wartete. Nach fast zwei Stunden sah ich sie mit einer silberfarbenen Nobelkarosse ankommen. Die Schranke tat sich ihr auf, sie fuhr auf das Gelände. Ich stieg aus meinem Auto, rief ihr zu. Sie freute sich sehr mich zu sehen, umarmte mich wie eine alte Freundin und nahm mich mit in ihr Haus.
Ihr Wohnzimmer schien größer als meine gesamte Wohnung in Deutschland. Sie fragte, ob ich hungrig sei und führte mich in die Küche. Sie selbst sei gerade auf Diät, hätte deshalb nur Knäckebrot und Halbfettmargarine im Haus. Später sollte ihr Boyfriend kommen, dann wolle sie mit ihm und mir ausgehen.
Hier müssen anscheinend alle immer ausgehen mit ihrem Besuch, ich würde gerne mal zu Hause sitzen und mich unterhalten.
Den Abend verbrachten wir im Pub. Auf einer kleinen Seitenbühne spielte ein Quartett gepflegten Country. Livemusik war in den Staaten offenbar gang und gäbe, ein Stück Kultur, welches uns in Deutschland abhanden gekommen ist. Richtige Beachtung ernteten die Musiker allerdings nicht, sie fungierten eher als lebender Plattenspieler.
Selbstverständlich übernachtete ich bei meiner Gastgeberin. Als sie von meiner Absicht hörte, das berühmte Disney World in Orlando zu besuchen, griff sie sofort zum Telefon. Ohne mich zu fragen, verabredete sie, dass ich für die Zeit meines Aufenthaltes in Orlando bei ihrer Freundin samt Mann und Kindern wohnen werde.
Danke für diese wundervolle Fügung.
Auf der Strecke nach Orlando liegt Cape Canaveral. Von dort startete die erste Rakete zum Mond. Das musste ich sehen. Ein Shuttlebus fuhr uns Besucher durch das weitläufig eingezäunte Gebiet vorbei an verschiedenen Raketen, die viel kleiner sind, als ich dachte.
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