Will gab mir zwei Telefonnummern.
Bevor ich meinen Flug buchte, rief ich in New York an. Eine Frau meldete sich. Ihre Stimme klang alt. Ich erklärte, ich hätte ihre Nummer von Will aus Deutschland und fragte, ob es ihr recht sei, wenn ich für ein paar Tage bei ihr einkehren würde, da ich niemanden kenne in Amerika.
„No problem“, erwiderte sie freundlich, nicht im geringsten überrascht über meine spontane Anfrage, „you’re welcome!“
Daraufhin buchte ich in den Flieger und trat meine Reise in die Vereinigten Staaten an.
Am Flughafen von New York bestieg ich ein Taxi. Der Fahrer redete ununterbrochen auf mich ein. Man müsse sehr aufpassen in Amerika, vor allem, wenn man das erste Mal hier sei. Es gäbe viele linke Vögel, die wollen einem ans Leder, ja, selbst Taxifahrer würden die Touristen nur allzu gerne ausnehmen wie Weihnachtsgänse, man solle sehr vorsichtig sein und niemandem trauen. Er selbst sei griechischer Herkunft, also gar kein richtiger Amerikaner, aber er wisse Bescheid, und deshalb warne er Neuankömmlinge wie mich.
Nachdem wir eine ganze Zeit lang gefahren sind, hielt er in einer Seitenstraße vor einem Mehrfamilienhaus.
Ich bezahlte die sechzig Dollar, die er verlangte, und ging mit meiner Reisetasche ins Haus.
Im dritten Stockwerk fand ich den Namen an der Haustür. Aufgeregt drückte ich den Klingelknopf. Hoffentlich ist überhaupt jemand zu Hause. Schon hörte ich Schritte über den Flur latschten. Die Tür öffnete sich. Vor mir stand die Mutter von Wills Freund. Unvorbereitet stutze ich: Sie war schwarz. Natürlich hatte ich schon Dunkelhäutige gesehen, nun aber sollte ich vorübergehend mit ihnen zusammen leben, auf dieselbe Toilette gehen, hautnah mit ihnen sein. Ich erschrak über mich selber, war ich etwa Rassist? Für einen Augenblick befielen mich Selbstzweifel, die glücklicherweise schnell meinem gesunden Menschenverstand wichen.
Fünf Minuten später plauderte ich mit der beleibten Dame in ihrer Küche bei einer Tasse Tee über Gott und die Welt. Nach weiteren fünf Minuten hatte ich unsere unterschiedlichen Hautfarben gänzlich vergessen. Wir begegneten uns einfach als Menschen. Ich verzieh mir meine kurze Verwirrung.
Als erstes fragte sie mich, wie viel Geld der Taxifahrer von mir genommen hätte.
Ich nannte den Preis.
“What? You paid sixty Dollar? The regular price is twenty-five, that fucking son of a bitch“.
Dem Taxifahrer war ich auf den Leim gegangen. Er wiegte mich in Sicherheit und wusste, er würde mich betrügen. So musste ich Lehrgeld zahlen für meine Naivität.
Die Mammy war wie eine Mutter zu mir. Ihr Sohn würde mir am nächsten Tag New York zeigen, alles, was ich sehen wolle, ich solle nur ja nicht alleine gehen, ich sähe ja, wie gefährlich es hier sei.
Am nächsten Morgen lernte ich ihren Sohn kennen, einen hochgewachsenen, hageren Burschen mit Schnauzbart über vollen Lippen. Lässig lehnte er im Türrahmen, verkündete seine Mutter sei ausgegangen, wir wären jetzt allein in der Wohnung.
„Soso, und du willst New York sehen. Was willst du denn sehen?“ Unverhohlen scannte er meine Körpermaße ab.
„Den Broadway.“ Sein Blick bereitete mir Unbehagen.
„Was hältst du davon, wenn wir Sex machen, bevor wir losgehen?“
Mein Atem stockte. Blitzschnell suchte ich fieberhaft eine passende Antwort. Wenn ich nein sage, fällt er womöglich über mich her. Ich kenne den Mann nicht, bin alleine mit ihm. Dass er Wills Freund ist, nützt mir jetzt wenig. Ist er überhaupt Wills Freund? Egal. Auf keinen Fall soll ihn meine Unsicherheit provozieren. Ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. „Nö, lass uns lieber losgehen.“
Lange blickte er mich an, schweigend, etwas mitleidig, als sei ich einfach nur eine arme, dumme Sau, der nicht zu helfen ist. In breitem Amerikanisch ließ er ab: „Okay, du willst den Broadway sehen, ich werde dir den Broadway zeigen.“
Per Taxi gelangten wir über die pittoreske Brooklyn Brücke nach Manhattan. In einer eher ärmlichen Wohngegend mit holperigem Pflaster hieß der Fahrer uns aussteigen. Will ging voran zu einer kleinen Kreuzung.
„Please, Madame, this is the Broadway!“
Wollte er mir einen dummen Streich spielen? Weil ich nicht mit ihm ins Bett gegangen bin? Dies konnte unmöglich der Broadway sein ohne Reklameschilder, Cabarets und volle Straßen.
Genüsslich betrachtete er mein ungläubiges Gesicht, deutete mit dem Daumen auf das Straßenschild.
Tatsächlich. Broadway. Nicht zu fassen.
„Jaja,“ grinste er überheblich, „ihr auf der anderen Seite vom großen Teich meint immer, Broadway sei nur das Lichtermeer, das ihr aus dem Fernsehen kennt, aber der Broadway ist verdammt lang und er fängt genau hier an. Du brauchst nur diese Straße aufwärts zu gehen, irgendwann wirst du dort hinkommen, wo es so aussieht, wie du es erwartest. Und nun bye, ich habe noch zu tun. See you later.“ Weg war er.
Ich atmete tief durch und marschierte los, beobachtete die mir entgegen kommenden Menschen, die Autos, die Häuser, die Geschäfte, das Leben und Treiben New Yorks.
Mit jeder gelaufenen Stunde stieg die Anzahl der Fußgänger, der Fahrzeuge, Geschäftshäuser und Lichter. Die Straße bereits mehrspurig, erspähte ich in der Ferne die riesige Werbetafel unweit der Theaterhäuser, den berühmten Teil des Broadways. Das aus dem Fernsehen bekannte Bild live wiederzuerkennen, erfreute mich ungemein.
Auf einmal setzte mein Herz aus. Vor der Rolltreppe eines U-Bahnschachts lag ein Mann reglos am Boden, ein Farbiger, sein Kopf blutüberströmt. Passanten stiegen über ihn hinweg, als sei er eine herumliegende Plastiktüte. Vereinzelte drehten sich nach ihm um. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Soviel Ignoranz durfte doch nicht wahr sein. Geschockt, bewegungsunfähig, ein Loch im Kopf anstatt eines klaren Gedankens, schob mich die Menschenmenge vorwärts und ich ließ mich weiterschieben.
In meinem Hirn ratterte es. War der Mann tot? Wie kann ich ihm helfen? Wieso hilft niemand? Wird er verfolgt? Droht Gefahr, wenn ich ihm helfe? Dürfen Weiße hier überhaupt Schwarzen helfen oder bekomme ich dann mit allen Ärger?
Ohnmächtig und verzweifelt verurteilte ich mich dafür, vorbeigegangen zu sein, ohne einzugreifen, irgendwie auch Rassist zu sein. Ich unterteilte in Schwarz und Weiß, anstatt nur an den Menschen zu denken. Und ich war auch ein Egoist, wenn mich meine privaten Ängste davon abhielten, einem Menschen zu helfen, zumal die Befürchtungen nur in meinem Kopf stattgefunden haben. Wie feige! Ich verachtete mich zutiefst.
Betäubt vom Schock über dieses Erlebnis und meine eigene Unfähigkeit, trugen mich meine Beine über den Broadway hinaus in den Central Park.
Auf dem Rasen unter einem hohen Baum ließ ich mich nieder. Seine ausladenden Äste boten mir Schatten und ein Stück Geborgenheit. Langsam beruhigte sich mein Gemüt. Vogelgezwitscher erreichte mein Gehör, ich begann meine Umgebung wieder wahrzunehmen.
Neugierde und Faszination haben mich doch tatsächlich volle acht Stunden laufen lassen – und das mir, die in Deutschland jeden Meter mit dem Auto zurücklegte.
Bis Harlem war es nicht mehr weit. Das Slumviertel der farbigen New Yorker zog mich nicht nur an, weil viele Musiker dort geboren sind, sondern weil ich wissen wollte, wie es im Slum ist. Fernsehreportagen reichten mir nicht, ich wollte live hinein, fühlen, welche Atmosphäre herrscht inmitten der Unterdrückten, von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten.
Instinktiv spürte ich, dass das gefährlich werden könnte für mich als Weiße so ganz alleine, und verwarf mein Vorhaben. Genug der Aufregung in den letzten zwei Tagen.
Von New York aus rief ich meine zweite Kontaktperson an, ein Mädchen namens Debbie mit Wohnsitz in Fort Lauderdale an der Küste Floridas.
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