Die Nächte in meinem Einzelzimmer überstand ich erstaunlich gut.
Daraus schöpfte ich den Mut, meine Kreise zu erweitern. Ich flog über den Atlantik auf die kanarische Insel Gomera, westlich von Nord-Afrika. Allein. Ohne meinen Freund und ohne Reisegruppe im Rücken. Gomera sollte ein Geheimtipp sein, vom Tourismus kaum entdeckt, mit etlichen unberührten Stränden und Natur. Das Unberührte lockte mich, das vom Menschen noch nicht Verunstaltete. Wildwüchsige Landschaften, Wälder und Seen. Unbewusst war mein Bestreben, zurück zu meinem eigenen, unberührten Urzustand zu finden, zum Frieden, der in mir herrschte, bevor das Leid des Lebens auf der Erde mich erfasste.
Trotz aller Übung hielten sich Ängste und Essstörungen hartnäckig. Mein Zustand verschlimmerte sich sogar. Mehrmals stand ich mitten in der Stadt, zitternd, heulend, verwirrt, irgendwie wissend, dass ich in dieser Stadt wohne, gleichzeitig aber auch nicht. Selbst meinen Namen Marlisa erinnerte ich dann nur schemenhaft, ohne Bezug dazu. Das machte mir Angst.
Einmal quoll ein regelrechter Schreianfall aus mir heraus. Obwohl ich nicht alleine war. Ein Studienfreund und ich wanderten einen einsamen Strand entlang, als etwas leise in mir zu rumoren begann. Ich wurde unruhig ohne ersichtlichen Grund, aufgewühlt wie die See. In meinem Kopf nahm die Lautstärke zu. Mein Atem beschleunigte, röchelte, fauchte gegen Wind und Wellen, wandelte sich zu einem Ton, der aus meiner Kehle heraus wimmerte, erst wie zartes Wehklagen, dann heftiger und zunehmend lauter. Im Leid versinkend spürte ich meinen Körper nicht mehr. Wie von unsichtbarer Hand geführt, stoppten meine Füße, wendeten mich dem Meer zu. Jetzt schrie es aus mir heraus, schrie und schrie aus Leibeskräften. Keine Worte, nur langgezogene Laute.
Voller Mitgefühl stand mein Studienfreund neben mir. Er wusste, er konnte nichts für mich tun.
Lange schrie es aus mir heraus, bevor es wieder aufhörte.
Danach hatte ich Angst, meinen Mund zu öffnen, nicht sicher, ob Sprache herauskommen würde oder Schrei.
Ich verstand nichts. Wollte das ändern. Musste was tun, irgendwas, damit der Wahnsinn endet.
Getrieben vom inneren Drängen suchte ich die Lösung bei Männern, aber es kam lediglich zu Sex und anschließend weinte ich, ohne zu wissen warum. Meinen Freund liebte ich deswegen nicht weniger abgöttisch. Er konnte nicht nachempfinden, dass ich diese Erfahrung für mich machen musste und verließ mich.
In Wahrheit hatte ich herausfinden wollen, ob Sex ein Weg ist zur inneren Befreiung, zum inneren Frieden. Nein. Ist er nicht.
Zu spät kam diese Erkenntnis. Meinen Liebsten verloren zu haben schmerzte entsetzlich. Unwiderruflich von mir gelöst widerstand er allen Versuchen, ihn zurückzugewinnen. Verbindung gekappt, Nabelschnur durchtrennt. Mutterseelenallein, haltlos, desorientiert mit Schmerzen im Bauch wurde das Leben zur Qual. Jedes Erwachen ohne Hoffnung, nur endlose Leere und Angst, hundert Mal am Tag.
Unbewusst verstärkten in meinem System gespeicherte Emotionen aus der Zeit, als meine Mutter mich verließ, meinen derzeitigen Schmerz, das Grauen, das quälende Warten, das wachsende Entsetzen beim Begreifen, dass mein Symbiosepartner einfach nicht wiederkommt.
Etwas in mir wartete immer noch.
Ich weiß nichts, was mehr wehtut als Liebeskummer. Weit weg wollte ich, ganz weit weg, am liebsten raus aus meinem Körper und nicht wieder rein.
Mich vor Sehnsucht verzehrend rief ich ihn eines Nachts um halb vier in betrunkenem Zustand an. Er war mir nicht böse. Ich schluchzte ihm meine Verzweiflung ins Ohr, faselte vor mich hin, bis er sagte, er müsse jetzt los, seinen Wagen beladen mit den Sachen für den Flohmarkt, alles Gute, tschüss.
Alles Gute, tschüss, was fällt dem denn ein?! Will keine Verantwortung mehr für mich übernehmen?! Obwohl er genau weiß, dass ich alleine nicht lebensfähig bin? Hastig nahm ich noch einen Schluck aus der Flasche. In mir brodelte es wie in einem Vulkan. Vorsichtig taumelte ich die Stufen hinunter, bestieg meinen kleinen Fiat und fuhr langsam und so aufmerksam wie möglich in seine Richtung. Um diese Uhrzeit war die Stadt menschenleer. Vorschriftsmäßig blinkte ich, bog rechts ab und sah bereits die beiden Fenster seiner Wohnung am Ende der Häuserschlucht. Licht brannte nicht. Ich folgte der Straße um die Kurve. Irgendwo würde ich schon einen Parkplatz finden. Oh! Überrascht hielt ich inne. Sein blaumetallic leuchtender Wagen hob sich in der Dämmerung von den gräulichen Häuserfassaden ab. Er schob einen Gegenstand auf die Rückbank des Wagens, drehte sich herum und blickte mich an. Mein Herz raste. In meinem Kopf zog sich alles zusammen zu einem schwarzen Loch. Der vermeintliche Verursacher all meiner Schmerzen, schön und unschuldig, jetzt sollte er mein Leid zu spüren bekommen. Meine Gedanken flogen undenkbar schnell, strudelten, und ich ertrank darin. Die Augen geschlossen, visierte ich ihn mit dem Lenkrad an, blinzelte, wusste nicht, ob ich ihn treffen wollte oder sollte oder lieber nur das Auto. Doch einem plötzlichen Impuls folgend peilte ich genau und drückte aufs Gaspedal – bis es knallte! Erschrocken setzte ich zurück. Die Seite seiner hübschen, blauen Karosse war eingeknüllt. So sieht es also aus, wenn solche Kraft auf ein Auto trifft, staunte ich verwundert. Paralysiert stand er zwischen Tür und Rahmen, ein Stück weit in die Knie gesackt, kreidebleich im Gesicht. Noch einmal setzte ich an, zögerte. Ich weiß nicht, wie sehr ich ihn wirklich treffen wollte, ich liebte ihn doch auch. Aber ich war so wütend und traurig, verletzt und verzweifelt und so hundeelendig einsam. Seit ich mit vierzehn von ihm träumte, wollte ich ihn zum Mann. Mein einziger Halt, den sollte ich auch noch verlieren?!
Er rannte auf die andere Straßenseite.
Warum kam er nicht zu mir? Enttäuschung wallte auf, brachte den Schmerz erneut zum Siedepunkt. Abermals rammte ich die Seite seines Autos. Dann setzte ich zurück und machte den Motor aus. Welch plötzliche Ruhe.
Ich lehnte mich in den Sitz. In mir war es still. Ich schloss die Augen.
Jemand öffnete die Fahrertür. Eine uniformierte Hand packte mich am Arm.
„Kommen Sie mal raus da bitte!“
Wie aus einer anderen Welt entstieg ich meinem Auto.
„Würden Sie uns bitte folgen?“
In dem Gebäude nebenan erkannte ich die Polizeiwache. Wahrscheinlich haben mir die Herren durchs Fenster zugeschaut. Leugnen ist sinnlos.
Sie sperrten mich in die Ausnüchterungszelle, fuhren mich ein paar Stunden später nach Hause und kassierten bei der Gelegenheit meinen Führerschein ein.
Meine große Liebe verzichtete darauf, mich wegen versuchten Totschlags anzuzeigen.
Zum Glück! Sonst wäre ich vielleicht im Gefängnis gelandet.
Steckten mörderische Veranlagungen in mir? Könnte ich morden?
Nun hatte ich auch noch Angst vor mir selber. Und heute Abend soll ich auf der Bühne stehen und vor zweitausendfünfhundert Leuten singen. Mein Gott, das ist verrückt.
Doch selbst in dieser Lebenslage machte ich meine Arbeit professionell. Das Publikum klatschte, die Jungs von der Band waren wie üblich mit mir zufrieden.
Unser Sänger Will, ein Amerikaner, offerierte beiläufig: „Wenn du mal in die Staaten willst, sag mir Bescheid. Ich kenne da eine Menge Leute, bei denen kannst du wohnen.“
Ja, das kam mir gerade recht, Hauptsache weit weg. Nach Amerika wollte ich schon immer, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Insgeheim hegte ich die Hoffnung, einen Indianer zu treffen, in ein Gebiet vorzudringen, wo einer der letzten Stämme noch in seiner Urform lebt. Hundertprozentig würde ich bei ihnen bleiben, vorausgesetzt sie akzeptierten mich. Es war mir peinlich zur weißen Rasse zu gehören, die den Indianern ihren Lebensraum raubte, Keule gegen Atombombe eintauschte und sich zivilisiert nennt. Ich hasste die Weißen dafür, dass sie Völker entwurzelten und vernichteten, statt von ihnen zu lernen, wie man Mensch, Tier und Natur respektiert, eins wird mit der Schöpfung, wie man wieder Mensch wird, sich auf der Erde bewegt, ohne zu zerstören. Das wurde anscheinend im Laufe des Fortschritts vergessen.
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