Lebt man jedoch ständig im Northern Territory, dann sieht das Ganze schon anders aus. Zumal, wenn man nicht zu den Glücklichen zählt, die sich Australier nennen dürfen. Nicht-Australier in dem Sinne, dass man eben kein Nachfahre der Strafgefangen ist, die 1788 hier abgeladen wurden oder Nachkomme der Siedler und Einwanderer, die in späteren Jahren überwiegend aus Europa einfielen. Als Terra Nullius deklarierte die britische Krone damals Australien, als unbewohntes Land und nahm es prompt unter Beschlag.
Dabei war Australien seit Jahrtausenden bewohnt, nur eben nicht von den Australiern wie wir sie heute kennen. Seit Urzeiten lebten dort die Aborigines.
Somit gehören Ellen und Dave mit Sicherheit zu den wirklich echten Australiern; einer nun etwa zweiundzwanzig Millionen großen Bevölkerung. Selbst, wenn sie Wahrnehmung ihres Daseins erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bekamen, denn sie sind Aborigines.
Ellen und Dave, ihre richtigen Namen sind für uns kaum auszusprechen und darum bleiben wir einfach bei diesen Namen, unter denen Ellen und Dave auch ihren Nachbarn bekannt sind, gehören zu den späten Gewinnern, möchte man es einmal überaus wohlwollend betrachten. Richtigerweise zählen sie aber zu frühen und immerwährenden Verlieren.
Im Jahre 1967 wurde ihnen das einzige Kind fortgenommen, in eine staatliche Institution verbracht oder vielleicht sogar von einer weißen Familie adoptiert. Sie wissen es nicht. Angeblich zum Wohle der Kinder der Aborigines wurde dieses staatlich verordnete, grausame Programm ersonnen. Schon möglich, dass die Zeit Wunden heilt, aber für Ellen und Dave reicht diese Zeit nicht mehr. Sie sind alt. Ihre Wunden werden sich nicht mehr schließen, wenngleich sie sich mit den Umständen Ihres Daseins arrangiert haben.
Im Verhältnis zu manch anderen Ureinwohnern des Kontinents, geht es den Beiden relativ gut. Waren sie auch nahe daran, nach dem von oben verordneten Kindesraub dem Alkohol zu verfallen, so schafften sie dennoch, wenn auch spät, den Absprung. Nun sind sie alt und erhalten von dem Staat, der ihnen so viel Unrecht antat, eine magere Apanage , die sie über die Runden kommen lässt. Mit jeglicher Art von Aushilfsarbeiten verschafft sich Dave ein Zubrot und Ellen arbeitet als Hausmädchen mehrfach in der Woche in einem italienischen Haushalt.
Damit hat sie einen wahren Glücksgriff getan, denn die italienischen Einwanderer sind nicht nur lebensfroh und freundlich, sondern honorieren die Arbeit von Ellen überdurchschnittlich gut.
Eine Woche haben nun beide frei, Urlaub wie sie sagen. Mit etwas Geld von ihrem Ersparten wollen sie sich auf den Weg zu ihrer ganz eigenen Urlaubsreise machen. Zu Fuß möchten sie zu einem für sie heiligem Platz pilgern. Ganz im Sinne alter Tradition. Das Licht dieses Tages werden sie für den Hinweg noch brauchen. Der Uluru ist das Ziel; außerhalb Australiens eher als Ayers Rock bekannt.
Dieser riesige Gesteinsbrocken mit einer Länge von etwa drei Kilometern und einer Breite von bis zu zwei Kilometern hat für Aborigines eine besondere Bedeutung und ist für sie ein Heiligtum. Laut mythischer Legenden enden dort alle Traumzeitreisen oder führen dorthin. Ungeachtet dessen turnen und klettern sowohl australische, als auch ausländische Besucher auf diesem Heiligtum herum, um für schöne Fotos zu posieren.
Doch auch damit haben sich Ellen und Dave arrangiert und überglücklich machen sich die beiden Alten auf den Weg. Abgesehen von ihrem Alter, ihrer Herkunft und den Lebensumständen, unterscheiden sie sich nicht von Ellen und Haraldur oder Ellen und Mike. Ihre innige Zuneigung zueinander scheint überdies noch intensiver, noch greifbarer zu sein. Zu Fuß, mit neuen aber billigen Sportschuhen bekleidet gehen sie los, denn für sie hat Zeit einen ganz anderen Wert, aber nicht unbedingt einen Preis.
Regen und Sonne sind auf dem Erdball sehr ungleich verteilt. Dörrt hier der gleißende Feuerball das Land aus, dann fällt woanders Regen im Ausmaß einer Sintflut. Doch diese vom Himmel herabstürzenden Bäche, die ganze Landstriche überfluten, kommen nicht nur zerstörerisch daher.
Dunkel, aber nicht mehr drohend wie noch Stunden zuvor, ziehen gewaltige Wolkenberge am Himmel vorüber. Zwischendurch sind Lücken zu erkennen, die einen Blick auf das strahlende Blau freigeben. Bis vor einer Stunde hat es noch heftig geregnet, nicht unnormal zu dieser Jahreszeit.
Monsun, was in europäischen Ohren klingt, als hätte ein asiatischer Fahrzeughersteller ein neues Mittelklassemodell auf den Markt gebracht, ist in manchen dieser Regionen Segen und Fluch zugleich. Durch die Wanderung des Zenitstandes der Sonne zwischen den Wendekreisen wird dieses Wetterphänomen hervorgerufen. Vielleicht ist es weniger ein Phänomen, als vielmehr eine jährlich wiederkehrende Wetterfront, deren Niederschlagsmenge natürlich nicht nur von der scheinbaren Wanderung der Sonne abhängt.
Was jedoch über Tarlac niederging ist schon recht ordentlich gewesen. Man kann sich eben nicht aussuchen, wo man das Licht der Welt erblickt. Hier auf Luzon im Norden der Philippinen gibt es eben den Monsun; genau wie Erdbeben, davon ausgelöste Tsunamis oder diverse Vulkanausbrüche. Der Pinatubo oder der Mayon zeigen deutlich ihre Aktivitäten; der Ring of Fire sorgt für so manche Überraschung.
Weil kein Ort in dieser Gegend mehr als zweihundert Kilometer vom Meer entfernt liegt, sind Ellen und Sanchez Rodriguez recht zufrieden, einigermaßen zentral zu wohnen. Nicht jeder großen Welle, welche es schafft, den Sand, die Sträucher und Büsche zu überwinden, gelingt es, dass Innere zu erreichen.
Ellen und Sanchez sind Namen, die aus Sicht eines Europäers gar nicht so recht asiatisch klingen. Diese sind der rund dreihundert Jahre dauernden Kolonialzeit geschuldet, in welcher die Spanier nicht nur ihre Sprache in Neuspanien verankerten, sondern auch das Christentum sich festsetzte. Somit zählen auch heute noch um die achtzig Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben.
Ellen und Sanchez entstammen der früheren Schicht der Ilustrados, einer Klasse, die es während der Kolonialzeit zu einigem Wohlstand brachte und die ihre Kinder sogar zum Studium nach Europa schickte; neue, freiheitliche Ideen aus Europa fassten damit auf den Philippinen Fuß. Die Großeltern ließen sich in Tarlac nieder und begannen mit einem kleinen Handelsgeschäft.
Von den kleinen Vorteilen, welche dieser Oberschicht vor Jahrhunderten zu Teil wurde, profitieren Ellen und Sanchez auch heute noch. Ihnen ging es immer ein wenig besser als den meisten ihrer Landsleute und mit Fleiß und Geschick brachten sie es zu einem Wohlstand, mit dem sie auch in der westlichen Welt zu den Besserverdienenden zählen würden. Sie genießen den Wohlstand, ohne dabei unangenehm aufzufallen. Ein schönes Haus wird von Bediensteten gepflegt und so ist es Manuel, der Gärtner, der die Keramikplatten zur Eingangstür des Hauses vom reichlichen Regenwasser befreit.
Mit der Zeit haben sich Ellen und Sanchez damit abgefunden, dass ihre Ehe kinderlos bleibt. Sanchez´ zweite große Liebe, neben seiner Frau, gilt seinem Import- und Exporthandel, der für das überdurchschnittlich gute Einkommen sorgt. Vierzig Mitarbeiter haben durch sein großes Engagement einen festen Arbeitsplatz gefunden. Bis vor wenigen Jahren hat Ellen noch fleißig im Büro mitgearbeitet, aber nun, mit Mitte vierzig, lässt sie es sich gut gehen. Auch Sanchez tritt beruflich kürzer, aber alles den Mitarbeitern überlassen, nein, dass kann er noch nicht. Eine Überraschung hält er, der bisher nur beruflich viel reiste, für seine Liebste bereit. In zwei Tagen möchte er sich mit ihr nach China aufmachen. Eine Flussreise auf dem berühmten Yangtze ist gebucht. Eine Reise, von der Ellen schon so lange träumt, und heute Abend wird er sie mit dieser Überraschung beglücken.
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