Drei Namen von Standorten, die schon seit vielen Jahren immer wieder einmal Erwähnung finden und doch eher beiläufig wahrgenommen werden.
Cape Canaveral, an der Ostküste Floridas gelegen, Baikonur, was sich in der kasachischen Steppe befindet und Kourou, in Französisch-Guayana, das sind die, nach bisherigem Sprachgebrauch, bekannten Weltraumbahnhöfe. Von dort aus wird sich jeweils einer der neuentwickelten Giganten mit je zehn Personen an Bord aufmachen. Das in jeder Hinsicht entfernte Ziel ist, neuen Lebensraum zu schaffen. Der Vorteil zu den Entdeckungsreisen vergangener Jahrhundert besteht darin, dass man weiß, wohin man sich aufmacht. Eine Ahnung ist da, was auf die Abenteurer der Neuzeit zukommt. Und das Wissen dazu, dass es kaum lebensfeindlicher geht.
Manche meinten, man hätte sich etwas mehr Zeit nehmen sollen, um noch mehr Tests und technische Verbesserungen abzuwarten. Andere hingegen drängten geradezu zur Eile. Berichte, dass Meteoriten einschlagen könnten, gab und gibt es zu Hauf und immer wieder tauchen Vorhersagungen über den bevorstehenden Untergang auf. Greifbar ist bislang jedoch nur, dass an den Polkappen das Eis noch schneller schmilzt, als vorhergesagt, die Meeresspiegel steigen und die Wetterextreme sich häufen.
Pessimisten neigen gar zu der Ansicht, der Mensch würde den Planeten Erde zerstören. Das ist natürlich Humbug. Der Mensch kann Leben vernichten, sich der eigenen Daseinsgrundlagen berauben; doch wie sollte er so einen Giganten wie die Erde in die Knie zwingen? Das kann sie nur selbst schaffen.
Nach Jahrmillionen des steten Marathons um die eigene Achse und der täglichen Veränderungen gibt es nur die Möglichkeit, dass sie selbst aufgibt. An den eigenen Grenzen der Belastbarkeit angekommen, würde dies der Techniker lapidar mit Materialermüdung umschreiben.
Doch weshalb soll heute eintreffen, was gestern noch nicht möglich erschien? Darum geht das Leben weiter, für jeden von uns und sehr individuell.
Als wäre der zweitgrößte Inselstaat Europas nur für die Märchenwelt geschaffen, dampft und brodelt es auf der größten Vulkaninsel aus vielerlei Schloten. Feuer und Eis prägen die Landschaft, verändern sie täglich aufs Neue. Unmittelbar neben heißen Quellen umspülen die kalten Wasser des Nordatlantiks die Küste. Hier bekommt man ein Gefühl für die Elemente, und die Bewohner lernten frühzeitig, damit umzugehen.
Sie nutzen die unvorstellbare Energie des Erdinneren, zapfen sie an, um an die lebensnotwenige Wärme zu gelangen und trotzen so der Kälte des nahen Polarkreises. Das ständige Aufbegehren aus dem Inneren selbst dient einzig und alleine dem Überleben der Insel. Die sogenannte Island-Plume sorgt mittels Vulkanismus für ständigen Nachschub an geschmolzenem Gesteinsmaterial und verhindert auf diese Weise ein Auseinanderbrechen.
Durchaus angenehm sollte man meinen; dreiundzwanzig Grad und die Sonne lacht von einem wolkenlos blauen Himmel. Dreiundzwanzig Grad sind hier auch im Juni nicht unbedingt die Regel, aber die Erderwärmung macht sich eben bemerkbar. Bedingt durch den Warmwassertransport des Golfstroms sind die Winter bislang relativ mild. Der sommerliche Juni dagegen kommt im Vergleich dazu recht kühl daher. Doch dieser Tag hat es so richtig in sich. Mal kein Regen, keine Wolken, nichts als strahlende Sonne und immerhin dreiundzwanzig Grad.
„Guten Morgen mein Schatz“, „Guten Morgen, mein Liebling“, so freundlich und das zusätzlich mit einem dicken Kuss besiegelt, begrüßen sich Ellen und Haraldur.
Ellen ist Bankangestellte und hat in den vergangenen Jahren einiges durchmachen müssen. Wie eine Löwin kämpfte sie um ihren Arbeitsplatz. Wie, man ist geneigt zu sagen alle Banken, so haben auch die isländischen Banken ordentlich gezockt und sich dabei verzockt. Jede verfügbare Minute opferte Ellen dennoch dem Unternehmen und nahm dabei etliche Einschränkungen hin. Für die unendlichen Überstunden konnte sie nicht auf einen geldwerten Ausgleich hoffen. Mit deutlichen Abstrichen wurden diese geleisteten Stunden einem Zeitkonto gutgeschrieben. Nur so konnte sie ihren Job als Kassiererin retten. Nun wo wieder alles geregelter zu verlaufen scheint, bedient sie sich an diesem Zeitkonto. War schon ein richtiger Kampf, den Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass sie sich diese kurze Auszeit verdient hat. Endlich vier Tage frei.
Haraldur, ihr Ehemann, ist Freiberufler, Künstler, Musiker. Seine Erscheinung erfüllt jedes Klischee, das einem bei dieser Berufsbezeichnung in den Sinn kommt. Hochgewachsen, mit modischem Drei-Tage-Bart und roter Zottelmähne, dazu einem Outfit, welches im krassen Gegensatz zu dem von Ellen steht.
Ihm fällt es schon leichter, sich mal einen Tag freizuhalten. Einfach so, wenn keine Termine angesagt sind. Ein ganz klarer Nachteil seines Schaffens, das Geld kommt nicht kontinuierlich herein. Gerade während der beschriebenen schwierigen Zeiten führte das oftmals zu Engpässen. Nächste Woche jedoch erscheint eine CD von Haraldur. Die Prognosen dafür sind durchaus positiv. Wenn der Durchbruch gelingt, dann wollen die beiden eventuell mal über eigenen Nachwuchs nachdenken.
„Das ist wie Urlaub“, strahlt Ellen ihren Liebsten an. „Vier Tage nur mit Dir; aber Du hast mir auch versprochen, dass wir shoppen gehen und ich mir ein Paar Schuhe kaufen darf.“
„Nicht nur auf diesen Tag freue ich mich, ich hoffe, die Nacht wird genauso kurzweilig werden“, lacht Haraldur zurück.
„Warten wir doch einfach ab, wie sich der Tag entwickelt“, gibt Ellen mit einem Augenzwinkern zurück. „Ich freue mich aber wirklich riesig, Harald“, so nennt Ellen ihren Traummann.
„Gut zehn Jahre, seit 2008, knapsen und sparen wir, wo wir nur können und so langsam geht es ja nun wieder aufwärts. Wäre schon toll, wenn wir im nächsten Jahr in den Süden reisen könnten. Ich möchte auch einmal am feinsten Sandstrand liegen und mich bei dreißig Grad bruzzeln lassen.“
„Ellen, ich habe zwar kein geregeltes Einkommen wie Du, aber Du hast erlebt, wenn wir mit unserer Band Auftritte haben, dann kommt richtig was dabei rum. Und für die nächsten Monate sind wir sehr gut gebucht. Es wird schon alles in unserem Sinne verlaufen, warte es ab. Komm, wir machen uns auf den Weg, sonst läuft uns die Zeit davon“, drängt Harald, während er Ellen nochmals einen Kuss aufdrückt.
Sie haben es nicht weit bis in die Innenstadt von Reykjavik, wo sie in einem der gemütlichen Lokale frühstücken werden, und auch die hübschen Schuhgeschäfte sind von dort aus leicht zu erreichen. Es ist wahrhaftig ein wunderschöner Junitag, mit erstaunlichen dreiundzwanzig Grad und das bereits in den Vormittagsstunden. Glaubt man den Meteorologen, dann ist dies der bisher wärmste Juni aller Zeiten. Wie ein jungverliebtes Paar und nicht, als wären sie schon seit neun Jahren verheiratet, bummeln sie sich an den Händen haltend los und es ist kaum auszumachen, wer mehr Glanz verbreitet; Ellen und Haraldur oder die Sonne, die das Pärchen lächelnd begleitet.
Das plötzliche Zittern des Bodens, ein fernes Grollen, so als würde die Erde rülpsen, das gehört zu Island, wie man Italien eben mit den Zitronen in Verbindung bringt. Kein Grund zur Aufregung. Der Ausbruch des Eyjafjallajökull hat seinerzeit in einigen europäischen Ländern für noch mehr Unruhe gesorgt, als auf Island selbst. Der prognostizierte Weltuntergang ist natürlich wie immer nicht eingetreten; wen stört es also, wenn die Erde hier mal aufstößt.
Deshalb ist das leichte Aufbäumen und das, nur auf den ersten Blick hin bedrohliche Grollen, wohl nicht mehr als ein Willkommensgruß für den neuen Tag. Vielleicht nicht ganz so zärtlich, wie Ellen und Haraldur das Erwachen begrüßten.
Jeder empfängt den neuen Tag auf seine Weise; mal im zärtlichen Überschwang, mal mit dem quälenden Bewusstsein, dass der tägliche Überlebenskampf wieder von neuem beginnt. Aber ganz gleich, mit welchen Gefühlen der Einzelne auf dem Planeten Erde zu neuen Aktivitäten aufbricht, Island ist überall. Wenn auch nicht dermaßen greifbar nahe für jeden, ist doch die treibende Kraft aus dem Erdinneren überall spürbar. So auch rund sechstausend Kilometer südwestlich von Reykjavik.
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