»Hau schon ab«, knurrte meine Kollegin. »Es gibt Dinge, die kriegst selbst du nicht zu sehen.«
Petermann nickte. Er musterte Fariba noch kurz durch seine randlose Brille, fuhr sich mit der Hand durch die fast schlohweißen, streng gescheitelten Haare und verschwand dann ohne ein weiteres Wort im angrenzenden Raum.
Ich sah ihm nach, schüttelte leicht verwundert den Kopf.
»An den muss ich mich erst noch gewöhnen. An seine Vorliebe für schwarze Klamotten auch.«
»Geht ganz schnell. Mir fällt schon gar nicht mehr auf, wie abgedreht Sebastian redet«, sagte Fariba neben mir.
»Echt jetzt? Ohne Scheiß?«
»Ohne Scheiß!«, sagte sie und lächelte kurz. Ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie mir keinen Atemzug später in die Augen sah. »Ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt, Mark. Du hast mir vorhin den Arsch gerettet.«
»Blödsinn …«
»Nein, das ist kein Blödsinn. Der Typ hatte mich voll im Visier. Eine Sekunde, Mark. Wenn du nur eine Sekunde gezögert hättest, wäre ich tot gewesen. Danke …«
Ich erwiderte nichts, hielt nur stumm an Faribas Blick fest.
»Sag was …«
Ich schwieg. Meine Gedanken waren bei Julia, die ich nicht hatte retten können.
»Okay, dann sag eben nix. Auch gut. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
Ich räusperte mich und versuchte, meine Gedanken an Julia in den Hintergrund zu drängen. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit Vergangenen zu beschäftigen.
»Was denkst du?«, fragte ich, »Warum haben diese Typen auf uns geschossen?«
»Diese Frage stelle ich mir auch schon die ganze Zeit.«
»Und?«
»Und was?«
»Was denkst du? Warum haben sie das gemacht?«, fragte ich erneut.
»Ich schätze mal, sie haben uns für das gehalten, was wir sind. Bullen.«
Ich nickte, sagte aber nichts. Faribas Erklärung erschien mir zu konstruiert. Gewöhnliche Terroristen schossen nicht so einfach auf Polizisten. So etwas taten noch nicht einmal verbohrte Islamisten, die dem Heiligen Krieg die ewige Treue geschworen hatten.
»Vielleicht haben uns die vier ja für jemand anderen gehalten?«, überlegte ich laut.
»Und für wen?«
»Keine Ahnung, war nur so ein Gedanke.«
»Na ja, einer lebt noch. Fragen wir ihn.«
»Geht nicht! Laut dem Notarzt hat er sich beim Sturz von der Treppe schwere Kopfverletzungen zugezogen und muss in den nächsten Stunden operiert werden. Den können wir also erst mal abschreiben.«
»Shit, das hab ich nicht mitbekommen.«
»Ja, du warst oben bei den beiden Frauen, als der Arzt bei dem Kerl eine Schädelfraktur diagnostiziert hat. Da hast du echt ganze Arbeit geleistet«, sagte ich, fügte aber gleich hinzu: »Das sollte jetzt kein Vorwurf sein oder so.«
Fariba winkte ab und strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Dann bleiben uns also nur noch die beiden Frauen. Sobald der Arzt mit ihnen fertig ist, knöpfe ich sie mir vor.«
»Ja, mach das. Ich denke ich fahre zurück ins Büro und gleiche die Bilder der Toten mit den Datenbanken ab. Vielleicht landen wir ja einen Treffer oder können eine Verbindung zu einer der bekannten Terrorzellen herstellen.«
»Du könntest Pia die Bilder auch einfach zumailen.«
»Könnte ich, will ich aber nicht«, sagte ich, während ich erneut aus dem Fenster schaute und ein Gesicht in der Menge sah, das mir bekannt vorkam. Jussuf Alkbari, der große Bruder unseres getöteten V-Mannes.
»Schau jetzt nicht aus dem Fenster«, raunzte ich meiner Kollegin zu. »Da unten steht Jussuf Alkbari und beobachtet uns.«
»Wo?«
»Nicht hinschauen«, mahnte ich erneut. »Er steht in der Nähe unseres Wagens, ungefähr fünf Schritte weiter rechts. Auf Höhe des roten Golfs.«
»Alles klar.« Fariba nickte kurz und zog sich vom Fenster zurück. Unsere Blicke trafen sich, sie hatte wieder dieses Ich-schnapp-mir-das-Schwein-Gesicht.
Als wir eine Minute später aus der Haustür traten, es nieselte noch immer und der Wind hatte weiter aufgefrischt, stand Jussuf immer noch neben dem geparkten Golf.
Er sah uns im selben Moment wie wir ihn. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand und wurde durch einen neuen ersetzt: Panik.
Ansatzlos warf er sich herum und rannte den Gehweg entlang. Keine Sekunde später jagten Fariba und ich ihm hinterher.
Ich hetzte die Straße entlang und wich einem weißen Toyota aus, dessen Fahrer ein wildes Hupkonzert abzog. Ich rannte weiter, mobilisierte alle Reserven und versuchte, den stechenden Schmerz in meiner Kniescheibe zu ignorieren. Es gelang mir nur mäßig, doch ich hielt mein Tempo, auch wenn es schwerfiel.
Zehn Meter vor mir spurtete Fariba den Gehweg entlang. Ihr Laufstil war locker und kraftvoll, sie war eindeutig die Schnellere von uns beiden. Ich schob es auf mein lädiertes Knie, war mir aber nicht sicher, ob ich mit einem gesunden ihr Tempo hätte mitgehen können.
Jussufs Vorsprung schmolz, seine Schritte wurden kürzer; ich sah an seiner Art zu rennen, dass er kein geübter Läufer war.
Ich zog das Tempo noch ein wenig mehr an, wechselte auf den Bürgersteig und versuchte, den Abstand zu Fariba nicht noch größer werden zu lassen. Doch er wuchs. Schritt um Schritt ein kleines Stück.
Jussuf Alkbari bog unterdessen in eine Seitenstraße ein und entzog sich so unseren Blicken. Sein Vorsprung betrug etwa zwanzig Meter, aus Faribas Sicht. Vielleicht waren es auch fünfundzwanzig.
Ich wich einer Frau mit Kinderwagen aus, umkurvte einen älteren Herrn und übersprang einen Hund, der erschrocken nach mir schnappte, mich zum Glück jedoch verfehlte.
Fariba bog nun ebenfalls ab, während ich noch ein paar Meter hatte, um ebenfalls die Seitenstraße zu erreichen.
Gott, wie angepisst!
Fünf Atemzüge später bog auch ich in die Straße ein. Ich humpelte jetzt stärker, mein rechtes Knie war ein einziges Flammenmeer.
Fariba hatten ihren Abstand auf Jussuf weiter verkürzt. Ihr fehlten nur noch wenige Meter, um den Flüchtenden zu stellen. Ich blieb hartnäckig, biss die Zähne zusammen und humpelte weiter.
Nur nicht aufgeben … bleib dran!
Ein schwarzer Mercedes der V-Klasse flog an mir vorbei. Der Fahrer des Vans gab kräftig Gas, der Sechszylinder orgelte im oberen Drehzahlbereich. Mein Blick streifte den schwarzen Kastenwagen. Die hintere Tür, es war eine zum Aufschieben, stand ein paar Zentimeter weit offen. Ich fluchte in mich hinein, ließ den schwarzen Mercedes aber nicht mehr aus den Augen. Das sah nach Ärger aus …
Fariba hatte unterdessen einen kleinen Zwischenspurt eingelegt und weitere Meter auf Jussuf gut gemacht. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie ihn sich schnappen würde.
Ich nahm etwas Tempo heraus, umkurvte einen Skater und wich einer Gruppe Jugendlicher aus. Mein Blick folgte dem schwarzen Van weiterhin, der fuhr nun auf Höhe von Fariba und Jussuf.
Was zum Teufel …?
Ich kam nicht mehr dazu, meinen Gedanken zu vervollständigen. Die Schiebetür des Vans wurde aufgerissen, und das dumpfe Bellen von Schüssen hallte von den Hauswänden zurück. Passanten schrien erschrocken auf. Manche sprangen zur Seite oder warfen sich in Deckung. Die meisten blieben jedoch einfach stehen und starrten entsetzt auf den Mann, der jetzt halb aus dem Van heraushing und seine Waffe abfeuerte. Ich riss meine Glock aus dem Holster, gab jedoch keinen Schuss ab – zu viele Zivilisten um uns herum.
Ich rannte weiter, stieß mit einem Mann zusammen, ging zu Boden, rappelte mich wieder auf und humpelte auf den schwarzen Mercedes zu, der jetzt mitten auf der Straße stand. Der Mann im Van – eindeutig ein Europäer – feuerte gnadenlos weiter. Uns trennten noch knapp zwanzig Meter und ich hatte noch immer kein freies Schussfeld.
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