„Haben wir den Schädel auch noch in der Seitenansicht?“, fragte sie, und Anne öffnete die entsprechende Bilddatei.
Dr. Kurz hatte eine ganz bestimmte Stelle im Visier und vergrößerte den Bildausschnitt, bis er körnig wurde.
„Deshalb ist Hermann nicht weggelaufen“, sagte sie mit einem wissenden Lächeln und tippte auf eine kleine Verdunklung auf der Aufnahme.
Auch Anne sah genau hin, konnte aber nichts erkennen. „Aber da ist doch nichts“, sagte sie unsicher.
„Wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss, übersieht man es“, erläuterte Dr. Kurz. „Hier, sehen Sie diese kleine Verdunklung? Achten Sie nicht auf die Farbe – achten Sie auf die Struktur!“
Anne entfernte sich ein paar Zentimeter von dem Röntgenbild und ließ das gesamte Bild auf sich wirken. Und tatsächlich schälte sich eine Struktur heraus. Während die meisten Brüche des Schädels geradlinig verliefen, gab es an dieser Stelle eine eckige Abwinkelung, die fast rechtwinklig verlief. Nein, sie verlief exakt rechtwinkelig, korrigierte sich Anne in Gedanken.
Dr. Kurz sah wie Anne die Zusammenhänge erkannte. „Da haben Sie es. Ein stumpfes Trauma, verursacht durch irgendetwas Eckiges. Er wurde niedergeschlagen. Eine Latte vielleicht … hmmm … ich tippe aber eher auf eine viereckige Eisenstange. Die Waffe scheint nicht groß gewesen zu sein – ein Stück Holz wäre da wahrscheinlich abgebrochen.“
Anne staunte, wie einfach die Details zu erkennen waren, wenn man nur wusste, wonach man suchen musste. Frau Dr. Kurz war ohne Zweifel sehr gut in ihrem Beruf, auch wenn sie es mit den Witzen etwas übertrieb. Jedem das seine.
Die Doktorin überflog die restlichen Röntgenbilder eher flüchtig, da sie gefunden hatte, wonach sie gesucht hatte. Überall nur Knochensplitterstücke, unfassbar dass dies einmal ein Mensch gewesen war. Hermann. Anne rief sich selbst zur Ordnung und betrachtete jedes Bild ganz ausführlich. Manchmal drehte sie eine Aufnahme um neunzig Grad oder vergrößerte Teilbereiche. Doch alles schien ganz normal, wenn man das bei diesen Verletzungen überhaupt sagen konnte. Bei einer Darstellung der unteren Wirbelsäule hielt sie inne. Etwas war seltsam. Durch den Traktorreifen war die Wirbelsäule schwer beschädigt worden, doch irgendwie passte es nicht zusammen. Wie ein Puzzle, das schon fertig war, und wieder auseinandergezogen worden war, lagen die einzelnen Wirbel herum. Ein Stück aber war übrig. Anne hatte die Knochen nicht nachgezählt, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dieses eine Stück da nicht hingehörte. Hinzu kam, dass es auf dem Röntgenbild deutlich heller dargestellt wurde, als die anderen Knochen. Unter der Masse an Knochenfragmenten tat es sich deutlich hervor. Anne kniff die Augen zusammen, um seine Form zu betrachten. Das konnte auf keinen Fall ein Knochenteil oder ein Wirbel sein. Die Form passte nicht. Aber was war es dann? Und wo kam es her?
„Frau Dr. Kurz – haben Sie eine Ahnung, was das hier sein könnte?“
Die Ärztin folgte Annes Finger und starrte auf das kleine leuchtende Teil. Um besser sehen zu können, setzte sie ihre Lesebrille auf, die ihr bis dahin an einer Kordel um den Hals gehangen hatte.
„Hmmm … hm, hm , hm … kein Knochen“, stellte sie fest und nahm wieder etwas Abstand.
„Aber was soll es denn sonst sein? Und wo kommt es her?“, fragte Anne etwas lauter, als sie es gewollt hatte.
„Sehen sie diesen leichten Schatten, der sich wie eine Straße über die Röntgenaufnahme zieht? Das ist der Darm.“ Frau Dr. Kurz folgte mit dem Finger der kaum sichtbaren Linie und hielt an dem leuchtenden Objekt inne. „Was immer es ist: es steckt in seinem Darm. Ich würde sagen so zwei bis drei Zentimeter vor dem Ausgang.“
Die beiden Frauen sahen sich einige Sekunden lang an, dann griff Dr. Kurz nach einem frischen Paar Handschuhe und streifte sie über.
„Wollen doch mal sehen, was das ist“, zischte sie zwischen den Zähnen hindurch, während ihre rechte Hand auf die Suche ging. Als sie den Gegenstand ertastet hatte, musste sie die Leiche auf die Seite drehen, um das kleine Teil greifen zu können. Unbewusst streckte sie leicht die Zunge heraus, während sie konzentriert an dem Gegenstand zerrte und ihn vorsichtig herauszog. Sie hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe, so dass auch Anne ihn genau sehen konnte. Es war eine Spielzeugfigur. Ein Frosch.
18
Kripo-Hubert quälte noch immer der Schlafmangel. Nachdem er die Nacht von Samstag auf Sonntag in Taldorf am Tatort verbracht hatte, war kaum Zeit zum Ausruhen gewesen. Erst als die Leiche abtransportiert war und die Spurensicherung alles mitgenommen hatte, was irgendwie von Belang sein konnte, war er nach Hause gegangen. Noch auf dem Weg ins Bett hatte sein Handy geklingelt, und sein Chef hatte ihn auf die Dienststelle beordert. Er hatte von dem Fall in Taldorf erfahren und meinte, er müsse sich einmischen.
Mit einem tiefen Seufzer hatte Hubert die Tür zu seinem Büro geöffnet und nur kurz einen Blick auf die Nachrichten in seiner Ablage geworfen, bevor er in das Büro seines Chefs gegangen war.
„Hallo, Hubert. Schön, dass du es noch einrichten konntest“, hatte sein Chef ihn begrüßt. Beide kannten sich schon seit fast dreißig Jahren und waren auch privat befreundet.
„Das ist ja ein ganz schöner Mist, was da in Taldorf passiert ist. Überrollt vom eigenen Traktor? Und das war sicher kein Unfall?“
„Dreimal vom eigenen Traktor überrollt“, hatte Hubert geantwortet. „Das war kein Unfall, Dirk.“
Sein Chef hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Nasenwurzel massiert. Irgendetwas bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Das wird dein Fall, Hubert“, hatte er wie selbstverständlich gesagt.
Hubert war überrascht hochgefahren. „Aber Dirk, meine Fachgebiete sind Einbruch und Diebstahl. Was ist mit unseren Mord-Super-Cops? Haben die so viel zu tun?“
„Tatsächlich ist gerade nur Willy im Dienst. Der Berger ist im Urlaub und Joschka ist im Mutterschaftsurlaub … oder Vaterurlaub … oder wie man das nennt. Auf jeden Fall ist er nicht da.“
„Aber dann kann’s doch der Willy machen“, hatte Hubert vorsichtig eingeworfen, sein Chef hatte aber sofort den Kopf geschüttelt. „Vergiss es. Wenn ich dem noch einen zusätzlichen Fall gebe, meldet er sich mit Burnout für das nächste halbe Jahr krank. Glaub mir, Hubert: ich würde dich nicht einteilen, wenn es auch anders ginge.“
Er war aufgestanden und hatte ein Fenster zum Hinterhof geöffnet. Gedankenverloren hatte er eine Zigarette aus einem Softpack geklopft und angezündet. Das Rauchen war im ganzen Gebäude verboten, doch es hatte Vorteile der Chef zu sein. Außerdem war Wochenende.
„Und das ist doch eh dein Revier“, hatte er mit einem wissenden Lächeln gesagt.
„Was meinst du?“, hatte Hubert unschuldig nachgefragt, hatte aber geahnt, was kommen würde.
„Komm schon, verkauf mich nicht für blöd, Hubert! Dieser Mord an dem Pfarrer vor ein paar Wochen … das war sicher nicht allein der Zeitungsausträger, der den Fall aufgeklärt hat.“
„Aber im Bericht steht doch …“
„Was im Bericht steht, interessiert mich einen Scheißdreck“, hatte sein Chef ihn sofort unterbrochen.
„Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wie das tatsächlich abgelaufen ist. Aber lassen wir es doch alles so, wie es im Bericht steht. Dann bekommt auch niemand Ärger. Wenn du jetzt aber diesen neuen Fall absolut nicht haben willst, müsste ich doch nachforschen, was du gegen Taldorf hast, und ob das mit dem Pfarrer-Fall zusammenhängt.“
„Also gut“, hatte Hubert sich geschlagen gegeben. „Ich übernehme den Fall. Aber erst mal muss ich ins Bett.“
Ohne ein weiteres Wort hatte Hubert das Büro seines Chefs verlassen und war nach Hause gefahren. Er war ins Bett gefallen, ohne einen Wecker zu stellen. Sein Handy hatte er ausgeschaltet. Und wenn die Welt unterging: er musste irgendwann mal schlafen.
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