Traigar bat nochmals wortreich um Verzeihung, doch der andere unterbrach ihn:
„Wo willst du denn eigentlich hin?“
„Ich weiß nicht. Ich bin gerade erst angekommen. Wisst Ihr vielleicht, wo ich etwas zu essen und ein Bett für die Nacht bekommen kann?“
„Das kommt auf die Fülle deines Geldbeutels an. Wenn du nicht über die Mittel eines Fürsten verfügst, wirst du wohl schwerlich etwas finden. Alle Gasthäuser und Herbergen sind überfüllt, selbst die Pferdeställe sind schon zu horrenden Preisen an menschliche Gäste vermietet. Eigentlich gibt es nur noch im Palast freie Zimmer. Aber wie gesagt: nur für Fürsten.“
„Ich habe leider gar kein Geld, aber ich kann für Unterkunft und Verpflegung arbeiten.“
Der Mann lachte leise.
„Was glaubst du, wie viele Menschen sich für die Spülküche anpreisen oder Pferdeställe ausmisten wollen, nur um sich das Bett mit wenigstens zwei anderen Gästen teilen zu dürfen? Aber ich sehe, du bist ein Künstler. Bist du gut in deinem Handwerk?“
„Ich denke schon. Ich hoffe, ich kann morgen beim Wettbewerb der Jongleure ein Preisgeld gewinnen.“
Wieder lächelte der Mann.
„Ah, so gut bist du also. Na, dann kannst du ja morgen fürstlich bezahlen. Schade nur, dass man hier überall Wert auf Bezahlung im Voraus legt. Aber mir fällt da etwas ein: Der Wirt des Gasthofs ‚Zur Gespalteten Tanne’ soll ein weiches Herz haben, sagt man. Vielleicht solltest du es dort versuchen. Geh hier die Straße entlang, dann biegst du die übernächste Gasse links ab, dann die nächste wieder rechts. Dieser folgst du bis zu dem grünen Haus mit den roten Fenstern. Von dort…“
Der Mann erklärte ihm gestenreich den komplizierten Weg. Traigar bedankte sich höflich und machte sich auf, den Gasthof zu suchen. Er folgte zunächst der breiten, belebten Straße. Doch bald wurden die Gassen schmaler, die Laternen seltener und die Schatten schwärzer. Er lief an geschlossenen Läden vorbei, durch deren Ritzen nur wenig Licht drang, dann durchquerte er einen engen und dunklen Durchgang. Hier roch es nach verfaulten Essensresten und Urin. Traigar atmete schneller und spürte sein Herz klopfen. Er war ein Landkind, das meist unter freiem Himmel schlief und die Weite gewohnt war. Die Enge der Stadt empfand er als bedrohlich. Hastig passierte er die finstere Gasse. Ein Poltern ließ ihn erschreckt herumfahren. Er riss den Dolch aus der Scheide. Doch es war nur eine große Ratte, die auf der Suche nach etwas zu fressen eine verrottete Kiste umgestoßen hatte. Er beschleunigte seine Schritte und fand endlich das grüne Gebäude mit den roten Fensterläden, das sich als Freudenhaus entpuppte. Doch er hatte den Rest der verzwickten Wegbeschreibung des dicken Mannes vergessen. In seiner Not sprach er eine der in den offenen Fenstern posierenden Frauen an und erkundigte sich nach dem Weg. Bald darauf hatte er das Gasthaus „Zur Gespaltenen Tanne“ gefunden.
Eine hohe, weißgetünchte Mauer umgab die Herberge. Durch das offenstehende Tor gelangte er in einen Innenhof mit einem Ziehbrunnen. Links von ihm waren die Ställe untergebracht, rechts befand sich das dreistöckige Gasthaus. Gelächter und Musik drangen aus der Tür. Die Fensterläden standen offen, und Licht schien durch Scheiben aus Butzenglas. Ein Mann stolperte über die Schwelle und taumelte lallend durch das Hoftor nach draußen. Traigar trat ein.
Innen erwartete ihn eine Wolke aus Tabakqualm und der Duft von geräuchertem Schinken, Bratkartoffeln und anderen Leckerbissen, der den Speichel in seinem Mund fließen ließ. An den rauchgeschwärzten Deckenbalken hingen zahlreiche Petroleumlampen, verteilt über den ganzen Schankraum. Dieser bestand aus zwei Abschnitten: Zu seiner Linken lag ein großer Saal, dessen Höhe sich über zwei Stockwerke erstreckte. Darin standen mehrere Reihen langer Tische mit Holzbänken zu beiden Seiten, alle voll besetzt. Am hinteren Ende des Raumes befand sich ein erhöhter Tanzboden mit einem Geländer drum herum, auf dem sich einige Paare abmühten, ihre Schritte in Gleichklang zu bringen. Eine schmale Treppe führte von dort zu einer Galerie hinauf, wo drei Musikanten mit Laute, Flöte und Handtrommel zum Tanz aufspielten. Gemurmel, Gelächter, Grölen und Zoten der Gäste überlagerten ihre musikalische Darbietung.
Zu Traigars Rechten erstreckte sich schlauchartig ein zweiter Raum, geteilt durch eine lange Holztheke. Dahinter zapften Bedienstete Bier oder schenkten Wein ein, davor stand eine Bank an der Wand, ebenso lang wie der Tresen, auf der die Gäste Seite an Seite saßen, alle mit Krügen oder Bechern in der Hand. Der eine oder andere hielt auch einen Kanten Brot oder eine Hühnerkeule.
Genau gegenüber der Eingangstür, in der Traigar immer noch stand, öffnete sich ein Durchgang zur Küche. Schankmägde, beladen mit Tellern, auf denen sich lecker duftende Speisen türmten, eilten heraus und schwärmten aus, um die Wartenden zu bewirten. Sehnsüchtig blickte er ihnen nach. Welch einen Hunger er hatte! Seine letzte Mahlzeit hatte am Morgen aus einem verschrumpelten und wurmstichigen Apfel bestanden, von einer Bäuerin erbettelt.
Er wandte sich zur Theke. Eine Bohnenstange von Kerl, mindestens sieben Fuß groß, noch recht jung, mit abstehenden Ohren und Schalk in den Augen, scherzte mit einer grün beschürzten jungen Frau, während er gleichzeitig Bierkrüge aus einem Fass füllte. Die Frau nahm die schweren Gefäße und trug sie, vier in jeder Hand, in den Gastraum. Traigar fragte den Mann, ob er der Wirt sei. Dieser lachte.
„Leider hat mich mein Vater noch nicht mit seinem Ableben beehrt. Solange bin ich nur der Sohn des Wirts. Was willst du von ihm, doch nicht etwa eine Unterkunft? Da muss ich dich enttäuschen.“
„Überlass das mir, Fitz“, vernahm Traigar eine bekannte Stimme. Aus der Küche war ein beleibter Mann getreten: der Passant, den Traigar vorhin beinahe umgerannt hatte.
„Ihr?“
„Ja, dieses Gasthaus gehört mir, kleiner Gaukler. Ich hoffe, du beherrschst deine Kunst so gut, wie vorgibst. Das musst du heute meinen Gästen beweisen. Ich erwarte eine grandiose Vorstellung von dir, die meiner bescheidenen Herberge Ruhm, Ehre und Gäste bringen soll. Doch vorher lasse ich dich passabel herrichten. Myra!“, donnerte seine Stimme durch den Gastraum und übertönte den Lärm. Die Frau in der Schürze tauchte wieder auf.
„Ja, Euer Durchleibt, wie kann ich Euch dienen?“ Sie zwinkerte ihm spöttisch zu.
Der Wirt tätschelte lächelnd seinen Bauch und verriet: „Gib’s doch zu, Myra: Du liebst meinen stattlichen Körper! Aber genug von deinen Schmeicheleien. Ich habe eine Aufgabe für dich, meine Liebe, die dir Spaß machen wird: Hier“ – er deutete auf Traigar – „haben wir einen außerordentlich wichtigen, ja, fürstlichen Gast. Jedenfalls streicht er, wenn man ihm glauben darf, morgen eine fürstliche Belohnung ein. Im Augenblick scheint er mir weder fürstlich auszusehen noch adligen Wohlgeruch zu verströmen. Stecke ihn also bitte in eine Wanne mit heißem Wasser und schrubbe ihn, bis seine Haut rosa wie ein Säuglingsarsch glänzt. Dann gibst du ihm ein paar alte Kleidungsstücke von Fitz, aus denen der längst herausgewachsen ist, und beauftragst Margo damit, die Sachen zu waschen, die er am Leib trägt. Danach such ihm ein Bett, aber nicht dein eigenes!“
Die junge Frau kicherte. „Jawohl, Euer Gnaden, ganz zu Euren Diensten. Aber mit einem Bett werde ich wohl nicht dienen können. Selbst die Ställe sind voll, und auf jeder Pritsche und jedem Strohsack schlafen schon zwei Gäste.“
„Auch im Bett von Fitz?“
„Aber, Vater!“, wandte der junge Mann verdattert ein.
„Keine Widerrede. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Und außerdem wird vor Morgengrauen keiner von euch zum Schlafen kommen. Solange nicht der letzte Gast gegangen ist, werdet ihr arbeiten!“
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