Endlich schien der junge Mann aus seinem Tagtraum zu erwachen. Er bemerkte den Karren, der direkt neben ihm anhielt.
„Meinen Gruß, Herr“, sprach er den Kutscher an. „Ist die Stadt da unten Shoal?“
Wenigstens ist er höflich, dachte Ben und nickte.
„Ich nehme an, du willst zum Gauklerfest?“
„Oh ja. Ich arbeite als Jongleur. Ich möchte am Wettbewerb teilnehmen. Vielleicht gewinne ich ein paar Silbermünzen.“
Der Junge tat Ben ein bisschen leid. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht, doch seine Frau hatte ihm stattdessen eine widerborstige Tochter geschenkt, nur wenig älter als dieser Bengel hier. Er liebte sie über alles, aber sie hatte sich seinen Bemühungen, sie zu erziehen und ihr seine Wertvorstellungen beizubringen, erfolgreich widersetzt. Das Kürschnerhandwerk hatte sie auch nicht erlernen wollen. Dafür zog sie jetzt durch die Wälder und sammelte irgendwelche Pflanzen, aus denen sie abscheulich schmeckende Tees brühte. Die Leute bezeichneten sie hinter ihrem Rücken als Kräuterhexe.
Ben bedauerte den Vater dieses Grünschnabels, dessen Erziehungswerk schien ebenso gescheitert, denn wie sonst hätte der Bengel ein herumstreunender Hungerleider werden können, naiv genug zu glauben, er könne mit seinen so genannten Künsten Geld verdienen? Deshalb polterte er schroffer als beabsichtigt:
„Mein lieber Junge, weißt du überhaupt, wie viele Gaukler sich schon in der Stadt aufhalten? Es sind Hunderte, die sich um die wenigen Preisgelder streiten. Nur die ersten drei eines Wettbewerbs bekommen nämlich etwas. Und auf die warten schon Heerscharen von Taschendieben, Räubern und Halsabschneidern. Vor fünf Jahren, beim letzten Fest, gab es drei Morde! Am besten kehrst du um. Das Gauklerfest ist ein Sumpf, in dem sich die Trunksüchtigen, Verderbten und Verbrecher wie Schweine suhlen, nichts für Milchbärte wie dich.“
Er knallte dem Maultier die Zügel auf die Hinterhand, sodass es sich erschrocken in Bewegung setzte, und ließ den sprachlosen jungen Mann einfach stehen.
Traigar vergaß den grantigen Alten schnell und richtete seinen Blick wieder auf das beeindruckende Panorama. Er hatte noch nie das Meer gesehen, geschweige denn einen Sonnenuntergang über der See. Mit ehrfürchtigem Staunen genoss er die letzte Szene des grandiosen Schauspiels. Unter ihm erstreckte sich eine halbkreisförmige Bucht, die sich nach Westen, zum Ozean hin, öffnete. Die Sonne war gerade hinter dem Horizont versunken, und ein roter Dunstschleier schwebte über dem bleifarbenen Meer. Wenige Augenblicke davor – als sie noch drei Handbreit über der leicht gewölbten Linie der Kimm gestanden hatte – war die See wie eine Platte aus poliertem Silber erschienen, auf der ein gleißender, Funken sprühenden Schweif glitzerte, dann hatte das Wasser die Farbe von heller Bronze und bald von Gold angenommen. Der Glutball schmolz sich schließlich hinein, verflüssigte das Gold und versank in der Schmelze. Der Spiegel der See schien wieder zu erkalten, sein Kupferton verblasste, und sein Glanz nahm ab.
Traigar prägte sich diesen Anblick ein und verwahrte ihn in der Schatztruhe seiner Seele. Er wollte sich immer daran erinnern.
Ein dreimastiges Schiff unter vollen Segeln schnitt mit keilförmiger Kielwelle durch das Wasser und hielt auf den Hafen vor der Stadt zu. Zahlreiche große und kleine Schiffe lagen an den Kais vor Anker.
Shoal war annähernd kreisförmig und von zwei konzentrischen Mauern umgeben, die äußere dick genug, um Katapultgeschossen zu widerstehen, die innere zu hoch für Sturmleitern. Wehrgänge mit Schießscharten liefen über die Mauerkronen, insgesamt zwölf hohe Wachtürme ragten weit über den dreifachen Befestigungsring. Vier Tore mit Türmen zu beiden Seiten gewährten den Zugang, davon eines zum Hafen hin und eines nach Süden. Durch dieses wollte er die Stadt betreten, doch zuerst musste er der Straße folgen, die von der Klippe hinabführte. Von hier oben erkannte Traigar ein verschachteltes Häusermeer. Rote und braune Ziegeldächer türmten sich übereinander und verzahnten sich wie die Schuppen einer Fischhaut. Die Straßen und Gassen dazwischen mussten eng und verwinkelt sein. Einige Türme ragten hie und da hervor, manche spitz, andere glockenförmig. Die letzteren schienen zu einem größeren Gebäudekomplex zu gehören, wahrscheinlich einem Tempel. Und dann erhob sich auf einem Hügel am nördlichen Ende ein Palast, majestätisch und prächtig, mit Marmorsäulen, Minaretten und Spitzbögen. Wohnte da der König?
Die Dämmerung währte in diesen Breiten nur kurz. Traigar sah die ersten Laternen aufleuchten. Er machte sich auf den Weg.
Eine Weile später betrat er die Stadt. Der Geruch, der ihm entgegenschlug, war überwältigend. Es roch nach Meer, nach Fisch, Stall und Stroh, nach Abfällen und Fäkalien, aber auch appetitanregende Gerüche von Gebratenem, frisch gebackenem Brot, von Bier und fruchtigem Wein gehörten zu diesem Gemenge. Vor allem aber roch es nach Menschen, nach Schweiß, Dreck, Ärmlichkeit, Krankheit, aber auch nach Duftwasser und Weihrauch.
Noch nie hatte er solche Menschenmassen erlebt. Trotz seines Unbehagens zwängte er sich hindurch und bemühte sich, jedem auszuweichen, der seinen Weg kreuzte. Er war es nicht gewohnt, anderen Menschen so nahe zu sein. Viele Leute trugen ärmlich aussehende, mehrfach geflickte Kleidung aus grobem, grauem oder lehmfarbenem Leinen oder Schafswolle. Sie schritten zielstrebig, den Blick geradeaus gerichtet, an Traigar vorbei und ignorierten die anderen Passanten. Kein Zweifel, sie gehörten hierher, waren Bürger dieser Stadt. Im Gegensatz zu ihnen schlenderten die meisten besser Gekleideten müßig umher, flanierten unter bunten, an Leinen über die Straßen gehängten Laternen, blickten neugierig in Fenster und Hinterhöfe, lachten, kehrten in Wirtshäuser ein oder verließen sie mehr oder weniger betrunken. Diese betuchten, meist in Gruppen auftretenden Passanten schienen Fremde zu sein, vom Gauklerfest angelockt und darauf aus, sich zu amüsieren.
Tandhändler, die mit Bauchläden oder kleinen Handkarren an den Ecken standen, priesen mit lauten Parolen ihre Waren an. Freizügig gekleidete Frauen mit rot gefärbten Lippen und gurrendem Lachen boten mit anzüglichen Gesten ihre Körper feil. Schattengestalten mit in Kapuzen verborgenen Gesichtern lugten aus den schmalen Gassen und kleinen Hinterhöfen heraus, warteten wohl auf ein unvorsichtiges oder betrunkenes Opfer, um es auszunehmen. Die Ursache all dieses Gewimmels waren die Angehörigen seiner eigenen Zunft. Hie und da klopfte ihm einer der bunt gekleideten Gaukler und Artisten auf die Schulter oder schickte ihm im Vorbeigehen einen freundlichen Gruß zu.
Die Stadtwachen, die gut gerüstet und mit Schwertern bewaffnet zu zweit durch die Straßen patrouillierten, musterten die vielen Fremden und die zwielichtigen Einheimischen misstrauisch. Es schien, als würden sie Ärger erwarten.
Plötzlich vernahm er Hufgetrappel. Ein Reiter kam um eine Ecke galoppiert, direkt auf ihn zu. Sein riesiges Pferd schäumte am Maul. Die aufgerissenen Augen des Tiers schienen wütend auf Traigar zu starren. Die anderen Passanten wichen routiniert und gelassen zur Seite, um den Weg frei zu machen. Der junge Gaukler, für einen Augenblick im Schreck erstarrt, schrie auf und rettete sich im letzten Moment mit einem Sprung, der ihn mit einem gut gekleideten, übergewichtigen Mann mittleren Alters zusammenstoßen ließ. Er erschrak zum zweiten Mal und stotterte eine Entschuldigung.
Der Angerempelte sah ihn tadelnd, aber wie es schien auch belustigt an.
„He, junger Mann, nicht so hastig und respektlos! Du bist wohl nicht von hier? Na, dann will ich gerne gnädig sein und darauf verzichten, die Wachen zu rufen und dich wegen Belästigung eines einflussreichen Bürgers einsperren zu lassen. Du solltest vorsichtiger sein. Der Bote des Lords ist in diesen Tagen ständig unterwegs, um den Stadtwachen Anweisungen zu geben. Die Sicherheit der Bürger und Besucher ist Lord Gadennyn sehr wichtig. Der Meldereiter hat es immer eilig, denn je eher er die Befehle abgeliefert hat, desto früher kann er eine Pause in einer der Schenken einlegen. Komm ihm also nicht in die Quere.“
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