Die Mönche erweisen sich als hervorragende Lehrer. Sie unterrichten Theologie und Geschichte, Schriftkunst, Mathematik und Sternenkunde, Heilkunde und andere Wissenschaften, doch von den Kniffen des Handels verstehen sie wenig. Athlans Vater hat mit ihnen vereinbart, sein Sohn sollte die Ausbildung im Kloster für ein Jahr unterbrechen, um bei einem Kaufmann in die Lehre zu gehen.
Das Geheimnis, das ihm der kleine Buchband offenbart hat, fasziniert den Jungen mehr als alles, was ihm seine Lehrer beigebracht haben, aber er kann ihm nicht auf den Grund gehen, solange er in den Mauern des Klosters gefangen ist. Doch endlich ist der Tag gekommen: Der Abt schickt ihn fort, damit er seine weltliche Ausbildung antreten kann. Und so macht sich der junge Mann eines Tages mit einem Bündel über der Schulter auf den Weg.
Doch kaum ist er außer Sichtweite des Klosters, verlässt er die Straße und sucht den Pfad, der in die Berge führt. Der wird bald schmaler und steiler. Den ganzen Tag läuft er, bis seine Füße wund sind. Als die Dämmerung kommt, ist er meilenweit von jedem Gasthaus und jeder menschlichen Behausung entfernt. Er sucht sich etwas Laub zusammen und bettet sich darauf. In der Nacht wird es bitterkalt, denn der kurze, nordische Sommer verliert sein Rückzugsgefecht gegen die Vorboten des Winters. Es ist Herbst geworden im Vulcatgebirge. Athlan wickelt sich eng in seine Decke. Er hört Wölfe heulen und fragt sich, ob er nicht einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Reumütig beschließt er, am nächsten Tag umzukehren und sich auf den weiten Weg in die Stadt Yaga zu machen, wo ihn der Kaufmann, sein neuer Lehrherr, erwartet. Doch als die Morgendämmerung die Sterne verblassen lässt und er weder von Wölfen gefressen, noch erfroren ist, holt er eine Landkarte und einige Landschaftsskizzen aus seinem Mantel hervor. Er hat sie sorgfältig aus dem im Keller gefundenen Büchlein abgezeichnet, das er schweren Herzens zurückgelassen hat, denn er wollte kein Dieb sein. Seine Augen suchen die ringsherum aufragenden Gipfel ab. Einer von ihnen sieht tatsächlich so aus wie auf der Skizze, die er gerade studiert. Nach dem kargen Frühstück sind seine guten Vorsätze vergessen. Er folgt dem Pfad weiter hinauf.
Gegen Mittag hat er die auf der Karte eingezeichnete Stelle erreicht. Er entdeckt den Höhleneingang, wenige Schritte über sich. Nur, wer den Ort kennt, wird den Blick an dieser Stelle nach oben richten und die Höhle bemerken. Er klettert hinauf. Doch der Eingang ist mit Geröll und Schutt verschlossen. Sollte der beschwerliche Weg umsonst gewesen sein? Er beginnt, mit seinem zinnenen Essteller zu graben. Zum Glück haben Wind und Wetter in den mehr als vierhundert Jahren, die seit dem im Buch beschriebenen Geschehnissen vergangenen sind, Steine gelockert und Sand weggetragen. Am späten Nachmittag ist er durchgestoßen und braucht das Loch nur noch etwas zu vergrößern, um hindurchschlüpfen zu können. Mit zitternden Händen zündet er innen die mitgebrachte Kerze an und blickt sich um. Er fährt erschrocken zusammen, als er das Skelett entdeckt. Damit hat er nicht gerechnet. Doch um die Halswirbel des Knochenmannes ist das geschlungen, was er sucht. Das Silber ist zwar angelaufen, aber der Stein schimmert makellos und schwarz. Er hebt das Amulett hoch. Zu seiner großen Verwunderung findet er darunter ein Stück rosige Haut: das einzige Fleisch, das nicht verbrannt und trotz der Zeitspanne von mehr als vierhundert Jahren nicht der Verwesung anheim gefallen ist. Vorsichtig nimmt er dem Toten die Kette ab und legt sie sich um.
Jahr 1691 n. WH – Gegenwart.
Der alte Ben starrte verdrossen auf sein Maultier, das den schweren Karren die steile an der Klippe entlang führende Straße hinaufzog, die von der Stadt zur Hochebene führte. Er saß mürrisch auf seinem Kutschbock, würdigte den Sonnenuntergang über dem Meer keines Blickes, knallte ab und zu mit den Zügeln, um das störrische Tier anzutreiben. Er wusste, wenn es einmal stehen bliebe, könnte er es kaum dazu bewegen, das Fuhrwerk wieder anzuziehen.
Vor der Dunkelheit würde er sein Dorf nicht mehr erreichen. Hätte er doch den Wagen nicht so voll beladen! Er arbeitete als Kürschner und Gerber und verkaufte seine Waren in der Stadt, meist an Kapitäne, die Fracht für ihre Schiffe suchten. Im Hafen hatte er einen jetzt überfüllten kleinen Lagerraum gemietet, weil er heute und für die kommenden Tage mit einem sehr guten Geschäft rechnete. Am Morgen hatte er deshalb noch mehr Felle, Lederwaren und Stoffen eingeladen, bevor er in die Stadt aufbrach, in der Hoffnung, seine Waren würden ihm aus den Händen gerissen, doch statt mit einem gefüllten Geldbeutel kehrte er jetzt mit einem Karren voll unverkaufter Produkte nach Hause.
Die Hafenstadt Shoal war die größte der Provinz und deren Handelszentrum. Deshalb hatte er sich in ihrer Nähe niedergelassen. Tausende von Menschen wohnten hier. Doch nun wimmelte die Stadt von Besuchern aus den Provinzen, die die Gaukler und Artisten aus aller Welt sehen wollten. Das Gauklerfest war eine Attraktion, die nur alle fünf Jahre stattfand.
Aber die Vorfreude des Alten auf gute Geschäfte war Ernüchterung gewichen. Shoal brummte zwar wie ein Bienenstock, doch die Reisenden waren nicht gekommen, um Felle und Leder zu kaufen. Sie wollten feiern, Bier und Wein trinken und sich an den wettstreitenden Schaustellern ergötzen. Die Besitzer von Gasthäusern, Herbergen, Vergnügungsstätten und Hurenhäusern rieben sich die Hände, aber er hatte sogar weniger als sonst verkauft. Von seinen Kunden, den Handelskapitänen, Schneidern und Polsterern, hatte er nur wenige angetroffen. Die meisten schienen sich unter die Feiernden gemischt und ihre Arbeit vergessen zu haben. Und die Gaukler und fahrenden Artisten, die die ganze Aufregung verursachten, erwiesen sich als abgerissene Bettler und Habenichtse. Er durfte nicht hoffen, einem von ihnen auch nur ein Schnäuztuch zu verkaufen. Morgen könnte es noch schlimmer werden, denn wenn das Fest erst im vollen Gange war, würde niemand seinen Verkaufsstand eines Blickes würdigen. Er müsste Lärm und Gestank in der Stadt wohl umsonst aushalten.
Allmählich näherte sich der Karren dem Rand der Klippe. Oben, ins rötliche Licht der untergehenden Sonne getaucht, stand ein Mann, oder besser gesagt: ein junger Bursche, der hinunter auf die Stadt, den Hafen und das Meer blickte und Ben und sein Maultier überhaupt nicht wahrzunehmen schien. Der Kürschner erkannte mit leichter Abscheu ein weiteres Exemplar dieses hergelaufenen Gesindels: Ja, unverkennbar ein Gaukler, wie seine bunte Narrenkleidung bewies. Ben musterte ihn abschätzend. Der Junge ging barfuß. Seine verhornten Füße hatten einmal Sandalen gesehen, deren Riemen helle Streifen auf der sonnengebräunten Haut hinterlassen hatten, doch das schien ein paar Tage her zu sein. Wahrscheinlich waren sie ihm verrottet von den Füßen gefallen. Bunte Stofffransen – Zeichen der Gauklergilde – verzierten die Außennähte der schmutzigen, lehmfarbenen Leinenhose. In der abendlichen Windstille baumelte der Gildenschmuck müde herab. Der Oberkörper des jungen Mannes war halbnackt, lediglich eine ärmellose, viel zu kleine Weste aus bunten Flicken bedeckte ihn. Man konnte jede einzelne Rippe sehen. Ja, dachte Ben, wer arbeitsscheu ist, hat auch nichts zum Beißen. In einem Strick, den der Gaukler als Gürtel um die Taille gebunden hatte, steckte ein Jagdmesser, und ein Geldbeutel hing trostlos und schlaff herab. Dafür trug der Junge ein mageres Bündel über der Schulter, wahrscheinlich mit seinen wenigen Habseligkeiten. Bens Blick tastete sich weiter nach oben und blieb am Gesicht hängen. Und zum ersten Mal ließen seine Gefühle von Abscheu und Geringschätzung nach. Der Ausdruck des Jungen war entrückt und voller Freude. Eine Träne glitzerte im Augenwinkel, und sein hohlwangiges Gesicht glühte im Abendlicht. Die Augen schimmerten hellgrau wie Gletschereis, die Nase war leicht gebogen, der Mund voll und weich. An Wangen, Oberlippe und Kinn spross ein flaumiger Jünglingsbart. Die hellbraunen Haare waren lang, strähnig und ungepflegt und bedurften dringend, wie der ganze Junge, eines heißen Bades. Mit einem mit bunten Perlen besetzten Lederband hielt sie aus der Stirn.
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