Der Eingang hinten rechts, ja, dort musste es sein. Der Treppenflur war eng, geschraubt, verwinkelt. An den Wänden starb der Putz. Das Gebäude musste im vorvorigen Jahrhundert von einer Großloge der Wanderratten und Spitzmäuse erbaut worden sein. Die Wohnung lag im dritten Stock. Ich klopfte, da die Klingel ihren Dienst verweigerte. Die Tür war nur angelehnt. Als sich nichts rührte, klopfte ich ein weiteres Mal, dieses Mal eindringlicher. Ich hörte eine helle, dünne Stimme ‘ Herein ’ rufen. Es war die helle, dünne Stimme von Roger Kruger.
Ich stieß die Tür ganz auf und trat in den schmalen Korridor. Ich erkannte den abgenagten Fußläufer wieder, ebenso die zahlreichen Poster, sogar den goldlackierten Gaszähler und das überquellende, einsturzgefährdete Schuhbord. Ich ging den Korridor entlang, kam an einer offenen Tür vorüber. Es war das Klo. Drinnen saß eine nackte Farbige. Sie schenkte mir ein frohes Grinsen, und ihre weißen Zähne entfachten ein Strahlen, das die Umgebung für Augenblicke taghell ausleuchtete.
Ich tappte leicht verwirrt weiter und gelangte in eine Art Wohnzimmer. Dort lag auf einem roten Sofa, die Beine hoch gelagert, Roger und kaute an einem Stück Hartwurst. Ich hob die Hand zum Gruß. Roger nickte freundlich und wies auf einen zerknautschten Sessel.
“ Installe-toi. ”
Ich kam der Aufforderung nach und ließ mich auf dem Sitzmöbel nieder, das mit einem müden Quietschen reagierte und, wie ich mit einem kurzen Seitenblick feststellte, über Sprungfedern verfügte, die wie Lockenwickler bodenwärts in alle Richtungen aus dem Innenfutter herausragten.
Auf dem Tisch vor uns stand eine halbvolle Flasche Wein. Roger bot mir davon an. Während ich mich bediente, kam die kleine Farbige in den Raum getänzelt. Sie trug jetzt immerhin ein Höschen. Roger stellte sie mir als Fania vor. Das Mädchen schwebte auf mich zu, ich erhob mich halb aus dem Sessel, und wir tauschten Wangenküsse, wobei mir war, als würden mich die Spitzen ihrer birnenförmigen Brüste sanft berühren. Erneut lachte sie über das ganze Gesicht, dann wandte sie sich an Roger.
“ J e vais parti r , ch é ri.”
“ O ù ? ”
“ Chez le toubib. ”
Damit entschwand sie. Sie habe eine Entzündung am Fuß, sagte Roger, als müsse er ihren raschen Abgang erklären, deshalb renne sie wöchentlich zum Arzt, irgend so ein morgenländischer Wunderheiler, ein Bekannter ihrer besten Freundin, ein Araber. Er wüsste sie ja viel lieber bei einem richtigen Arzt in Behandlung, aber sie habe eben ihren eigenen Kopf. Roger verzog resigniert sein milchblasses Gesicht und hob achselzuckend beide Hände.
Ich schlug die Beine übereinander. Ich war hier, weil wir uns zu einer Modigliani Ausstellung verabredet hatten. Roger arbeitete bei einem Radiosender, einem der vielen radio libre , die es in und um Paris herum gab, und er arbeitete vorwiegend nachts. Er verdiente nicht viel in diesem Job, darum versah er nebenher eine Tätigkeit als Wächter in einem Museum. Überdies waren die freien Radiosender ständig vom Absterben bedroht. Man sah seinem Gesicht die berufliche Anspannung an, in seiner rechten Augenbraue regte sich gelegentlich ein heftiges Zucken, in seinen Bewegungen lag eine nervöse Hast, ansonsten war er jedoch ein schelmischer Zeitgenosse, und er redete gern, und er redete viel.
Am Rande erfuhr ich, dass er mit der schwarzen Perle seit einem halben Jahr zusammenwohnte. Sie kam von der Elfenbeinküste, und war für ihn ein doppelter Glücksfall. Zum einen, weil sie wie eine Sommerfrische sein Leben aufpulverte, zum anderen, weil sie zurzeit mehr in die gemeinsame Kasse einbrachte als er. Sie arbeitete als Model, sie war, wie er mir nicht ohne Stolz mitteilte, das erste schwarze Hand-Model Frankreichs. Er nannte mir ein paar Anzeigen, in denen ihre Hände der Reklame für verschiedene Produkte als Verschönerung dienten, sogar für einen Werbespot sei sie schon verpflichtet worden.
Ich war eine halbe Stunde zu früh. Aus diesen und anderen Gründen setzte ich mich noch auf eine Zigarette in den Jardin du Luxembourg . Es war ein lauer Sommerabend. Die Sonne modellierte lange, sahnige Schatten. Es war ein schöner Sommerabend. Ich schlenderte dann an dem Wasserbecken vorüber, wo Väter und Söhne heute wie an jedem anderen Tag kleine, motorisierte Modellschiffe mittels Fernbedienung über einen Miniatursee tuckern ließen, schaute eine Weile zu, ehe ich mich schließlich zu der Buchhandlung begab, in der Daniel an diesem Abend seine Autographen-Sammlung einem halbexklusiven Publikum zur Anschauung zu bringen gedachte.
Es fanden sich erst wenige Gäste in dem Buchladen. Daniel, noch damit beschäftigt, letzte Hand an all die Schaukästen zu legen, in denen seine gesammelten handschriftlichen Schätze dekorativ ausgebreitet lagen, begrüßte mich, indem er mir zuwinkte, als ich den Laden betrat.
Um die Zeit totzuschlagen, tat ich so, als würde ich unter reger Anteilnahme all das aufgebahrte Gekritzel prominenter Hände beschnüffeln, wartete insgeheim aber eher darauf, dass die Bar mit den Getränken freigegeben wurde. Daniel wechselte lediglich ein paar flüchtige Worte mit mir, er war zu diesem Zeitpunkt noch zu sehr beschäftigt.
Er war zugleich der Geschäftsführer dieser Buchhandlung. Nicht mehr für lange. Er hatte vor, sich zu verselbstständigen, um gemeinsam mit einem Freund und in Eigenregie Kunstpostkarten zu vertreiben, ein einträgliches Gewerbe, wie er mir wiederholt versicherte. Ich kam gelegentlich in seinen Laden, weil er auch deutsche Bücher im Sortiment führte. Daniel Castor war Schweizer, lebte seit gut zwei Jahren in Paris . Er war ein smarter Endzwanziger mit guten Manieren, guten Sprachkenntnissen, gutem Aussehen und einem großzügigem Charakter.
Nach und nach füllte sich die Buchhandlung. Es gab zu essen und zu trinken. Eine bunt zusammengewürfelte Schar von Leuten verteilte sich über die Räumlichkeiten, in denen die Luft rasch von Tabakrauch und Gesprächskonfetti stickig wurde.
“ Man muss den Schmerz wegdenken. ”
Der so sprach, stand mit dem Rücken zu mir, war groß, fast riesig, von stachliger Dürre und sein mächtiges, kantiges Haupt wirkte umso mächtiger, als die rötlichen Haare darauf wild züngelnde Komposthaufen bildeten und mir den Eindruck erweckten, als könnte jeden Moment ein Buschfeuer von ihnen ausgehen. Wer wollte da schon der Brandstifter sein?
Ich stand so nahe, dass ich hören konnte, worum es in diesem Gespräch gerade ging. Es ging um Hämorrhoiden. Der zweite Mann, der diese Unterhaltung bestritt, litt unter selbigen und beklagte wiederholt, dass das eine äußerst schmerzhafte Sache sei. Er habe sich daher entschlossen, wie er ausführte, die lästigen Untermieter operativ entfernen zu lassen. Er war gut anderthalb Köpfe kleiner als die rote Giraffe, und ich hatte beide schon einmal an diesem Ort gesehen, kannte sie flüchtig auch von anderen Anlässen her. Der kleinere war Musiker, hielt am Ircam , diesem renommierten französischen Babel für zeitgenössischen Musiklärm, Kompositionskurse ab, der andere war Dramaturg.
Man wechselte jetzt das Thema, nachdem eine junge, atlantesk anmutende Frau hinzugetreten war. Sie hatte zwei Konzertkarten zu vergeben, eine für einen Klavierabend mit Arturo Benedetti Michelangeli , eine andere für ein Konzert mit Kompositionen von Manuel de Falla . Der Große schien interessiert an ABM , bei de Falla runzelte er die Stirn und hob abwehrend beide Hände. Die Frau wunderte sich.
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