Während er das Wort führte, fiel mein Blick auf ein Foto, das aus dem Jüngerschen Buch herausgerutscht war und das, wie ich, aus Gründen, die ich nicht kannte, annahm, Bergers jüngste Tochter zeigte. Es zeigte sie auf einem Sofa sitzend, eine junge Frau mit strengen, klaren Gesichtszügen, und indem ich das Foto betrachtete, wurde es mir unversehens zum Vexierbild, und mir war, als blickte ich einem weiblichen Cherub ins rätselhafte Antlitz, und im Hintergrund des Lichtbildes erschien mir, zwischen Zahlen und zwischen Licht, mein eigenes, mein zweites oder mein drittes Angesicht.
“ Schauen Sie, Jünger schreibt Möve mit v, nicht mit w. Ungeachtet dessen, dass beide Sch r eibweisen statthaf t sind , hat die erste r e den V orzug, nicht allein das W ort, sonder n auch das damit bezeichnete Objekt mit Eleganz auszustatten, es sozusagen vornehmer erscheinen zu lassen. Und ein weiteres bewirkt diese Schreibweise: sie nimmt das Bild des Fluges, des im Fluge befindlichen V ogels ideographisch in die Schriftzeichen mi t auf. Schauen Sie, so...”
Berger zückte einen Stift und warf zur Veranschaulichung seiner Ausführungen rasch eine Serie von Vs auf eine Papierserviette. Dann, anhand eines weiteren Zitats, knüpfte er noch einen anderen parasakralen Faden.
“ Hier in diesem Satz macht der Autor aus dem für gewöhnlich in einem Wort geschriebenen ‘einmal’ zwei Worte, nämlich ‘ein Mal’, und er schreibt Mal groß. Ich bin in diesem Fall nich t sich e r , ob er es getan hat, weil er diese Sch r eibweise für richtige r hielt oder vielmehr deshalb, weil sie stärker ist. Wir kennen es üblicherweise so von den Ausdrücken ‘das erste Mal’, ‘das zweit e Mal’ und s o weite r , also in V erbindung mi t dem bestimmten Artikel, de r , r egelkonform, das Substantiv zur Folge hat. Jünger missachtet die korrekte Form, nimmt sich sprachliche F r eiheiten... Ich habe noch eine ande r e V ermutung bezüglich der Absicht, die ihn z u seine r W ahl veranlasst haben könnte, eine Absicht, von der ich allerdings annehme, dass sie ihn eher vorbe wusst geleitet hat: das Wort Mal ist nicht nur ein starkes Wort, es ist ein Urwort, es bezeichnet etwas Magisches, es ziel t auf kultische Inhalte, und es ve r weist hie r , sozusage n du r ch seine besonde r e bz w . gesonderte V erwendung in Jüngers P r osa, auf die geistige Haltung seine s Autors, auf einen Geis t nämlich, dessen Denke n bevorzugt in mantische n Räumen weilt, ode r , stärker noch, darin Wurzen schlägt. ”
In der Stadt flammten nach und nach die Lichter auf. Der Abend glitt heran, auf Rollschuhen. Ich saß (wir alle tun das von Zeit zu Zeit) auf etwas wackligen Füßen, denn in der Nähe meines Tisches schlängelten sich stellenweise die Wurzeln einer riesigen Korkeiche über den Erdboden hinweg. Meine Kaffeetasse schepperte obertonreich auf ihrem Untersatz. Jemand neben mir nieste. Und am Himmel fiel ein früher Stern aus seiner Fassung, zerplatzte ohne den geringsten Laut. Ich schob die Tasse beiseite, weil, sie war leer getrunken und bestellte einen Osborne .
Die Witterung war zartbitter. Die Bäume entlaubten sich. Die Nächte wurden schon kühl. Die Terrasse des Cafés war so platziert, dass man einen weiträumigen Blick über das angrenzende V alle del Manzana r es hatte. Schräg von mir, zur anderen Seite hin und am Rande einer Plaz a , dämmerte eine kleine Kirche im Plataresken-Stil . Ich war zuvor, vom nahe gelegenen Palacio Real kommend, kurz in ihrem Innern gewesen, um für ein paar geweihte Augenblicke die Gotteshäusern so eigene, überzeitliche Stille einzuatmen.
Ich wartete auf einen Anruf von Carlos. Doch der Anruf blieb aus. Es war jetzt gut eine halbe Stunde über die vereinbarte Zeit. Seinetwegen war ich in diesem Café. Er hatte mich hierher bestellt. Der Café Inhaber war ein Freund von ihm, oder ein Mittelsmann oder etwas Ähnliches. Carlos van Breusegem war Belgier. Als ich ihn kennen lernte, war das sein Name. Er führte aber auch andere, wie ich später erfahren sollte. Carl De Vroye etwa oder Castor van Butseele.
“ V erzeihen Sie, wenn ich st ö r e! ”
“ Ja... bitte? ”
“ Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber wir waren vorhin im selben Bus, auf dem W ege hie r he r .”
“ Nein, ich erinnere mich nicht. ”
“ Ich vermute, Sie sind wie ich auf Reisen, hier in Spanien? ”
“ In gewisser Hinsicht. ”
“ Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: mein Name ist Anthony Beck, aus New York..”
“ Hm.”
Ich hatte den Mann vorhin schon einmal aus den Augenwinkeln heraus marginal wahrgenommen, er war zweimal oder auch dreimal an meinem Tisch vorbei gekommen, ein dicklicher Typ, unruhig in Mimik und Gestik, der sich seltsam schleichend voranbewegte, ein nervöses Schleichen, eine Art Anschleichen, dazu ein Kopf, der gelegentlich zackig ruckte, ein unförmiger Kopf, ein Kopf, der tief zwischen runden, aufgewölbten Schultern saß, ein Dachskopf, in dessen Mundhöhlung ich eine fette, rote Zunge wähnte, von einem Rot, wie sie die Abendsonne nun zeigte, die changierend in der aufziehenden Dämmerung wegzuschmelzen begann, eine weitere Seite umschlagend in dem Buch irdischer Tage und Nächte, aller Tage Tau und aller Nächte Rauh.
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