Ich hatte bei meinen vorherigen Besuchen die Lektüre eines Buches fortgesetzt, das mir im Leseraum jenes Pflegeheims in die Hände gefallen war, welches mir als unwillkommener Austragungsort meiner fleuralen Leibesflecken gedient hatte: Ernst Jüngers ‘Annäherungen’. Seinerzeit hatte ich nicht viel verstanden, da es sich um eine französische Ausgabe handelte, jetzt stand mir eine deutsche Ausgabe zur Verfügung. Jedes Mal, wenn ich das Werk beiseite legte, fühlte ich mich wie ein hypnotisierter Schwarzkäfer, dessen Chitinpanzer in einer somnambulen Kläranlage fugendichter T omba k -Glanz verpasst worden ist.
Jung&cremig, silberkuehl die januare, vor 2,22 billionen jahren, als es noch keine januare gab, keine jaguare, keine feldblumen, keine ochsenfroesche, kein entsetzen, keine gesetze, ja, vielleicht nicht einmal kieselgestein; schraege tage, asynchrone tage, funkstill, funkenlos, ungenau; antwortlose tage, ungebetene gebete, grosso modo, zwitterwesen, tage gebacken aus umgekippten schatten, textlos, einstuerzendes gewoelk, gichtsteife winde, tage, von blinden, ungekämmten naechten umstellt, deren gesang mineralisch tönte, zirpend, muede zirpend, fernwaerts ziehend, vogelgleich, amsel, drossel, fink und star, in reihe dann, geschlossen die soldatenschar, einem ungefaehren geschick auf der faehrte. Was aber ist das alles? Ein endlos langer, ein zahnlos fahler tag... inmitten der titanenwelt.
Mein Hotel lag in der Carrera De San Jeronimo . Schon im Foyer war mir die Gestalt aufgefallen. Ein Mann jenseits der Sechzig, schätzungsweise; leicht gebeugte Haltung, die Arme beim Voranschreiten träumerisch pendelnd, korrekt kurz geschnittenes Haar, perlweiß, alpine Gesichtszüge, mausgrauer Kordanzug.
Er kam aus dem Lift und passierte mich, der ich auf dem Weg zur Rezeption war, um nach einem Zimmer zu fragen, und auch er musterte mich, wie mir auffiel, im Vorübergehen, ephemer. Er ließ sich am Ende der Empfangshalle in einen Sessel fallen. Es sah ganz danach aus, als erwartete er Jemanden.
Er nahm eine Zeitung zur Hand. Neben ihm ein Bündel Bücher, zusammengehalten durch einen Lederriemen, sowie eine Baskenmütze. Leute durchquerten die Halle. Es war zwölf Uhr. Ich zündete mir eine Zigarette an.
Kurz darauf betraten zwei Männer die Hotelhalle, hielten auf das Objekt meiner Studien zu. Die Zwei wirkten mediterran, der eine war von beachtlicher Leibesfülle, der andere von vibrierender Magerkeit. Sie setzten sich dem Grauen gegenüber. Der Beleibte saß da, breit ausladend, die Arme baumelten seitlich schlaff von den Sessellehnen herab, Kopf und Hals waren zu einer kolossalen Einheit verschmolzen. Er gemahnte an einen Buddha, an einen, der eine dicke Fettschicht zwischen sich und die Wirklichkeit gelegt hat. Der zweite, der hagere Mann wandte mir sein Profil zu, scharfe, mönchische Konturen, Hakennase, aufrechte, soldatische Haltung, schwarze, strenge Kleidung, ein Christus im Feldwebelornat.
Ich begab mich dorthin, wo die drei Männer saßen, nahm ein paar Meter von ihnen entfernt Platz und überlegte, was ich mit dem Tag anfangen sollte, hatte ich doch erst gegen Abend meinen Termin mit dem Bekannten von Carlos. Vielleicht ein Besuch im Prado . Dahin wollte ich schon, seit ich hier angekommen war.
Das Männertrio stand schließlich gemeinsam auf, machten einige Schritte zur Mitte der Halle hin. Der Mann im grauen Kord ging hinüber zur Rezeption. Die beiden anderen besprachen noch etwas miteinander und verschwanden dann. Auch ich erhob mich von meinem Platz. Ich ließ meinen Blick wandern, betrachtete beiläufig ein Wandfresko, das seitlich der Treppe über dem Lift schwebte wie ein… Anderswo.
Auch der Graue schritt anschließend dem Ausgang zu, die Mütze auf dem Kopf, die Bücher unter dem Arm. Ich folgte. An der Schwingtür, in einem Moment der Unachtsamkeit, entfiel das Bündel Bücher seiner Hand, woraufhin ihn, als er innehält, um nach unten zu schauen, die in Drehung versetzte Tür mit einer ihrer Glaswände so an der Wirbelsäule traf, dass der ganze Mensch heftig ins Straucheln geriet… Kleine Ursachen, die sich aufschaukeln.
Der Hotelpage eilte hinzu, doch schneller als jener war ich zur Stelle, fasste den Gestrauchelten am Arm, sammelte seine Bücher auf, welche einzeln - durch den Aufprall aus dem sie zusammenhaltenden Lederriemen herausgesprungen - am Boden lagen und gab sie ihrem Besitzer zurück. Während des Aufsammelns las ich flüchtig die Namen der Autoren auf den Buchrücken: Jung und Jünger .
Der Graue bedankte sich artig, auf Spanisch. Ich antwortete, auf Englisch. Er fragte mich, auf Englisch, ob ich Amerikaner sei? Ich erwiderte, nein, ich sei Deutscher, worauf der Mann mir, auf Deutsch, erklärte, dass wir dann ja nahezu Landsleute wären, er sei aus Tirol gebürtig. Wir traten gemeinsam auf die Straße hinaus, und der Tiroler lud mich ein, auf eine Tasse Kaffee.
Wir suchten uns ein Stehcafé. Der Graue stellte sich mir vor, sein Name lautete Vittorio Berger. Er arbeitete, wie er mir sagte, als Übersetzer. Der Dicke von vorhin, das war ein spanischer Autor gewesen, dessen Werke der Tiroler derzeit ins Deutsche übertrug, und dessen Begleiter sein Verleger. Ich wurde gefragt, ob ich als Reisender in der Stadt sei, und ich antwortete:
“ Sozusagen, für ein paar Tage. “
“ Oh, ein paar Tage nur, das ist nicht viel. Die Eindr ü cke bleiben da doch eher flü chtig, brennen sich nicht ein. Oder waren Sie bereits ö fter hier? ”
“ Nein, es ist das erste Mal. ”
“ Ah so! Was mich angeht, ich reise viel, die Metropolen dieser Welt sind mir gel ä ufig, ich schreibe gelegentlich Reise-Essays für Journale und Magazine. Zuletzt war ich für einen län ge r en Aufenthalt in den V e r einigten Staaten. ”
“ V erstehe. ”
“ Wissen Sie, Amerika ist ein weites, ein schönes Land, aber ohne wirkliche kulturelle Vielfalt. Di e wah r e Kollektivierung des Leben s geht heute von den V e r einigten Staaten aus, und sie schwappt in riesigen Wellen über die Kontinente hinweg. Europa dagegen ist noch ein Hort kultureller Eigenarten , auf engstem Raum. Drüben aber können sie Tausende von Meilen reisen, und allein die Landschaften ändern sich.”
Nach dem freundlichen Geplänkel über ferne und nicht so ferne Länder - wir waren mittlerweile in Nordafrika und der arabischen Welt angelangt - und der in diesem Zusammenhang ins Spiel gebrachten Namen Paul Bowles und Ernst Jünge r , die sich ja unter anderem auch als Verfasser von Reise-Impressionen hervorgetan haben, glitt das Gespräch zugvogelgleich neuen Gefilden zu, wobei sich, infolge eines Jüngerzitats über das Verhältnis von Natur und Technik, das Berger einem seiner mitgeführten Bücher entnahm, das Interesse des Tirolers vorübergehend auf den Sprachduktus besagten Textes verlagerte und er, mich als geduldigen Zuhörer in seinem Windschatten, einen kurzen Streifzug durch das Buchstäbliche zu veranstalten sich anschickte.
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