»Auch das ist richtig, wir haben uns mit der Katze wohl noch nicht professionell genug befasst. Aber es gibt auch sonst viel Arbeit, wenn die Hälfte der Kollegen in Urlaub ist. Und die Bestätigung, dass Edith Munroe tatsächlich an Gift gestorben ist, kam erst am Nachmittag auf meinen Schreibtisch. Die Art des Zyankali gibt unseren Leuten noch die Frage nach der Pflanze auf, aus der es kommt, denn sie kennen sie nicht. Sie sind aber ganz sicher, dass Edith Munroe das Gift mit dem Essen zu sich genommen hat. Die Speisereste von den beiden Tischen haben sie analysiert, dort findet sich keine Spur.«
»Sollte sich auch nicht, oder? Ich denke, in dem Fall hättet ihr zwei Leichen gefunden«, bemerkte Leonard.
»Für den Fall hätten wir eine dritte Person haben müssen«, konterte Richard. »Irgendwer muss der Toten das Gift ins Essen geschmuggelt haben, in ihres, nicht in seins; spannend ist, dass er alle Spuren verwischen konnte, das Geschirr aber einwandfrei so aussieht, wie es das nach einer Mahlzeit tun sollte.
»Keine Spur… nirgendwo…« Olivia schauderte, sie erinnerte sich erneut daran, mit welcher Geschwindigkeit Zyankali wirken konnte. »Es ist doch seltsam«, grübelte sie laut, »Edith und ihr Gast haben gemeinsam den Lunch zusammengestellt und gemeinsam gegessen. Dann, gegen Ende der kleinen Mahlzeit, wenn ich von den Resten auf dem Gartentisch rückschließe, kam das Gift ins Spiel, von dem es keine Spur außerhalb von Ediths Körper gibt. Sie hat es ohne Gewaltanwendung zu sich genommen, die Spuren hätten sich bei der Obduktion gefunden, und ohne ihr Wissen, natürlich. Hast du mit Helen Campbell gesprochen, Richard? Selbstmord ist ausgeschlossen?«
»Ja, sie hält ihn für ausgeschlossen.«
»Wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«
»Sehr ruhig und irgendwie zustimmend. Sie ist eine starke Frau. Heute auf dem Nachhauseweg habe ich ihr die Nachricht gebracht und gefragt, ob ihr Aspekte zu dem Tod ihrer Schwester eingefallen sind, die ich wissen sollte, was nicht der Fall war. Morgen früh werde ich mich in Ruhe mit ihr unterhalten.«
Am anderen Morgen, es war Donnerstag, saß Olivia an ihrem Schreibtisch und verfasste eine ihrer vierzehntägigen ›Londoner Skizzen‹ für die Süddeutsche Zeitung. In dieser beschäftigte sie sich mit Theodor Fontane. Er hatte Mitte des 19. Jahrhunderts drei Mal in London gearbeitet, insgesamt mehr als vier Jahre, und für die ›Preußische Zeitung‹ aus England berichtet. Vor wenigen Wochen war er mit einer Blauen Plakette an seinem damaligen Wohnhaus in Camden Town geehrt worden, eine inzwischen wahrhaft seltene Ehrung durch English Heritage und wert, nach Deutschland berichtet zu werden. Im Anschluss stellte sie die Strickmuster zusammen, für die Wangari sich bereits entschieden hatte und machte sich auf den Weg zum Wollladen. Es war inzwischen Nachmittag, die Temperatur angenehm und der Himmel leergefegt und wasserblau. Dieses Mal nahm sie den Bus.
Als sie auf den Laden zuging und ihr das rote Samtsofa durch die Fensterscheibe entgegen leuchtete, fühlte sie Verwunderung in sich rumoren, irgendwo vom Magen aufwärts: Der äußere Anblick war völlig unverändert, obwohl im Inneren das Grauen explodiert war. Entschlossen drückte sie die Tür auf und rief auf der Stelle eine Begrüßung in die Leere. Die Verbindungstür zum hinteren Haus stand offen und Helen Campbell erschien umgehend. Olivia streckte ihr beide Hände entgegen.
Aufmerksam sahen Helens grüne Augen die junge Frau an, endlich nickte sie: »Sie waren sehr hilfsbereit, vorgestern. Ich danke Ihnen.« Sie löste sich aus dem Handgriff, trat etwas zurück und setzte mit der ersten Andeutung eines freundlichen Lächelns hinzu: »Sie haben schon die ersten Aufträge für mich?«
Sachlich und wieder sehr ernst sah sie Olivias Skizzen durch, stellte Fragen und rechnete Wollmengen aus, trug zusammen, was möglich war und schrieb für die fehlenden Vorräte eine Bestellung. Sie war schon beim Rechnung schreiben, ohne dass es für Olivia möglich gewesen wäre, über die Wolle hinaus ins Reden zu kommen. Helen wollte offenbar nicht über den Todesfall sprechen und Olivia hatte letztlich keinen Grund, Fragen zu stellen.
Doch der Zufall schlägt manchmal Haken wie ein Hase. Helens Freundin stürmte mit ihrem entwaffnenden Lächeln in den Laden, etwas gemäßigter als vor zwei Tagen, aber nicht weniger entschlossen. Ohne Umstände umarmte Marilyn Fleming ihre Freundin, bevor sie Olivia ein ebenfalls herzliches ›Guten Abend‹ entbot. Nachdenklich blieb ihr Blick an deren Gesicht hängen: »Ich habe Sie vor kurzem gesehen, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo das gewesen sein könnte, wissen Sie es?«
Olivia nickte freundlich, aber zurückhaltend. Sie respektierte Helens Schweigen mehr, als ihr bewusst war. »Es war hier im Laden vor zwei Tagen, ich war gerade im Gehen, als Sie kamen.«
Es arbeitete fix in Marilyn Flemings Kopf: »Sind Sie Olivia Lawrence? Haben Sie mich angerufen?« Olivia nickte bestätigend und Marilyn schwieg unerwarteterweise. Behutsam wandte Olivia sich der Bestellung zu, die Helen ihr zur Unterschrift hingeschoben hatte. Als sie den Stift beiseite legte, hatte Marilyn ihren Entschluss gefasst: »Helen, Mrs Lawrence, sollten wir nicht zusammen zu Abend essen? Wäre das möglich, Mrs Lawrence? Helen, kannst du dir das vorstellen? Wir könnten so viel von Mrs Lawrence erfahren«, bekräftigte sie ihren Vorschlag.
Stille trat ein, eine Stille, die Olivia unangenehm an diejenige von vor zwei Tagen erinnerte. Diese Art Stille wollte sie nicht mehr: »Ich für meinen Teil habe noch Zeit«, beantwortete sie Marilyns Frage.
Erfreut sah Marilyn sie an: »Das ist sehr großzügig von Ihnen, danke sehr. Helen, nicht wahr… ich glaube bestimmt, dass es gut sein wird, wenn Mrs Lawrence uns einfach erzählt, was sie erlebt hat. Wir können uns dann wenigstens manches besser vorstellen. Was meinst du?« aufmunternd stellte sie ihre Tüte auf den Tresen. »Riechst du das frische Brot? Dazu habe ich drei Sorten Käse mitgebracht, ein Stück französische Pastete und viele kleine Tomaten, rote und gelbe, es sieht sehr sommerlich aus. Und eine Flasche Rotwein natürlich. Kommt, wir sperren den Laden zu, decken den Tisch, waschen die Tomaten und schon ist alles fertig und gemütlich. Helens Garten ist so wunderschön«, wandte sie sich an Olivia, »für mich ist es wie Ferien zu haben, wenn ich dort im Sommer sitzen darf.«
Olivia stimmte ihr zu: »Ich glaube, gestern hat mich der Garten mit seinen Blumen und seinem Duft vor Panik bewahrt. Jedenfalls kam es mir im Nachhinein so vor«, ergänzte sie.
»Sehen Sie, Sie denken auch weiter über alles nach und müssen das verarbeiten. Kommen Sie, zusammen ist es leichter.«
Schweigend gab Helen Marilyn recht. Sie verriegelte die Tür, zog die Rollos herunter und löschte die Lichter. Hinter ihrem Besuch schloss sie die Verbindungstür und seufzte erleichtert. Olivia hörte es wohl. Wenig später saßen sie um den Gartentisch, Olivia in Ediths Sessel. Sie akzeptierte, dass es den beiden anderen so das Liebste war.
Helen war einfach verstummt. Seit Marilyn gekommen war, hatte sie noch kein Wort gesagt. Sie nippte an ihrem Rotwein, zerbröselte eine Scheibe Brot auf ihrem Teller und sah ins Leere. Ganz selbstverständlich hatte Marilyn die wenigen notwendigen Handgriffe erledigt. Sie fühlte sich hier wie zu Hause, das war deutlich und vereinfachte die Situation wesentlich. Nach dem ersten Schluck Rotwein brachte sie Olivia dazu, möglichst genau zu erzählen, wie sie den Dienstagnachmittag erlebt hatte, nachdem sie durch die Ladentür getreten war.
»Oh mein Gott!« machte sich Marilyn Luft, als Olivia schwieg. Die trank in kleinen Schlucken kaltes Wasser und wartete ab. »Gestern hat die Polizei Helen informiert, dass man bei der Obduktion Zyankali gefunden hat.« Zögernd fuhr Marilyn fort: »Edith hat dieses Zyankali gegessen, fühlte sich schlecht, stand auf und sank zu Boden, um nicht wieder aufzustehen, so war es, richtig?«
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