Nun vergehen die Tage noch länger. Karin weiß nicht, ob sie sich und das Kind nach diesem Eingriff noch mehr als bisher sowieso schon ausruhen soll oder ob sie so weitermachen soll wie bisher, damit sie nicht so viel über sich und das Kind nachdenken muss, ob sie sich endlich weniger Sorgen machen soll oder ob sie nicht vielleicht übers Wochenende zu ihrer Mutter fahren soll, was immer etwas nervtötend, aber immerhin eine Abwechslung ist. Was soll sie nur tun? Ein Schluck Fruchtwasser fehlt jetzt in ihrem Bauch – vielleicht hat sie jetzt genau deshalb endlich einen Grund für das komische Gefühl in ihrem Bauch. Vielleicht fehlt dem Kind jetzt genau dieser Schluck. Karin fehlt für so eine Situation der Plan. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben völlig planlos.
Und die blöden Ärzte trödeln mit der Untersuchung, die doch nun wirklich nicht so lange dauern kann. Karin denkt sich einen gleichgültigen, übernächtigten und kaum erfahrenen, weil gerade von der Uni kommenden Laborant in der Spätschicht, der ihr so kostbares, geradezu lebenspendendes Fruchtwasser in einem Reagenzglas nachlässig durchschüttelt. Da fällt ihm das Glas plötzlich aus der Hand, es fliegt durch die Luft und zerbricht auf dem blankgescheuerten Fliesenboden. Der Laborant ist spontan in Panik. Er ist doch erst seit ein paar Monaten von der Uni runter und der Laborchef hat ihn eh schon auf dem Kieker. Und damit niemand etwas merkt von diesem kleinen Malheur, das sich bloß nicht zu einer großen Sache auswachsen darf, pinkelt der Laborant heimlich in ein anderes Reagenzglas und fälscht die Tests. Und sagt am Ende: „Alles ist gut, Ihrem Kind geht es super. Und das Fruchtwasser kann jetzt auch wieder zurück in Ihren Bauch ...“
Karin schreckt schweißgebadet aus dem Traum auf. Wieder dieser Traum von dem dämlichen Laboranten, der ihr Fruchtwasser gar nicht wirklich untersucht, wieder dieser selbe Traum in Endlosschleife, an dessen Ende sie mitten in der Nacht heulend auf dem Badewannenrand sitzt. So fertig macht sie dieser Albtraum. So fertig macht sie diese Schwangerschaft, diese Unsicherheit.
So kann das nicht weitergehen, sagt sich Karin schließlich und ruft ihre Ärztin an. Und die ruft ihren Kollegen an: „Machen Sie mal hin, meine Patientin dreht hier langsam am Rad. Jaja, Sie wissen ja, die Schwangeren spinnen doch alle.“ So oder so ähnlich stellt sich Karin die Anfrage vor, aber das ist ihr schon egal. Und es stimmt ja auch ein bisschen: Sie spinnt wirklich langsam.
Und dann endlich ruft der Arzt Karin zurück. Dieser teure Facharzt, denkt sich Karin halb sauer, halb erlöst, hat es endlich geschafft, für das viele Geld, das Karin ihm in den Rachen geworfen hat, eine Schwester Karins Nummer wählen zu lassen: „Jaja, wir haben die Ergebnisse. Ja, die Daten liegen mir vor auf dem Tisch. Am besten, Sie kommen mal zu mir in die Sprechstunde – Heute ist Mittwoch, da nur bis zwölf. Aber Morgen wieder bis achtzehn Uhr, ja?“
Karin wartet natürlich nicht bis Donnerstag. Das wäre ja noch ein ganzer Tag. Und eine Nacht mit diesem dämlichen Traum von diesem dämlichen Laboranten. Nein, sie schnappt sich kurzerhand den verdutzten Max und flitzt los, trotz des üblen Gefühls im Magen und der Rückenschmerzen, die sofort losstechen, wenn sie Max nur hochnimmt. Der Wagen heult auf, als sie den Motor anlässt. Wie im Film, denkt sich Karin kurz, und dann: Warum hat er’s mir nicht direkt am Telefon gesagt?
Aber dann muss sie schon nach hinten gucken, weil der Wagen gerade aus der Einfahrt auf die Straße rollt.
Kurz vor zwölf meldet sie sich bei der Schwester. Die latscht ganz gemächlich über den Gang von der Klinik, weil sie nicht weiß, wie eilig es Karin hat. Ihr Bauch wurde durchleuchtet und abfotografiert, zwei Ärzte, drei Schwestern und ein Arzt im Praktikum haben ihr die Schnecke aufgehebelt und in ihr Innerstes geglotzt (was nicht mal Stefan von außen darf: so dermaßen unanständig einfach nur glotzen), ihr Fruchtwasser wurde rausgesogen und untersucht – und diese Schwester hier ist die Ruhe selbst, diese blöde Kuh (denkt sich Karin und bereut es auch gleich wieder, weil doch auch so eine blöde Sprechstundenhilfe kurz vor Feierabend mal latschen darf).
Karin muss warten. Im Wartezimmer sitzen ein Haufen blöde Leute, die dumpf vor sich hingucken. Eine blöde Frau, die dauernd hustet, füllt das blöde Rätsel in der blöden Frauenzeitschrift aus. Karin hält alle, die solche Zeitschriften lesen, für blöd. Generell und heute, gerade, im Moment und unter diesen Umständen – Entschuldigung! – ganz besonders. Und greift schließlich auch zu einer von denen, die da rumliegen, weil ihr so schnell so langweilig ist. Im Königshaus von Schweden, bei der letzten Gala in Berlin, das Ehegeheimnis von einem Moderator, den Karin nicht kennt ... Sie kann sich nicht auf die Texte konzentrieren, aber auf den Anblick des Stilllebens über der hustenden Frau oder einfach nur den Gang zum Arztzimmer auch nicht!
Dann ist sie dran.
Endlich!
Der Arzt überfliegt die Papiere, nickt kurz, weil er sie ja schon kennt, und nimmt dann die Brille ab. „Ich möchte nicht lange um den heißen Brei herum reden“, sagt er und redet trotzdem irgendwie drum herum. Zumindest denkt sich das Karin, die endlich Gewissheit haben will, die endlich hören will: Es ist alles gut. Damit endlich alles gut sein kann und auch ganz bestimmt wird. Also warum sagt er nicht gleich und sofort, dass alles gut ist ? „Aber verraten Sie das Geschlecht nicht“, platzt es aus ihr mit zittriger Stimme heraus. „Das soll mein Mann als erstes erfahren.“ Nervös fummelt sie an Max’ Ärmel, den er nicht ausleiern soll. Max auf ihrem Schoß hat nur Augen für die ganzen bunten Büromittelwerbegeschenke, die wie eine Mauer auf dem Schreibtisch zwischen ihm und Karin auf der einen und dem Arzt auf der anderen Seite stehen.
„Als ich die Aussackungen im Halsbereich gesehen habe“, sagt der Arzt nun, „da war mir das eigentlich schon klar. Ich wollte nur noch mal auf Nummer sicher gehen. Und die Werte hier bestätigen meinen Verdacht. Wollen Sie mal schauen?“
Er hält ein Bild hoch, auf dem Karin nur schwarze Flecken erkennt, und deutet mit einem Kugelschreiber auf einige davon. Karin wird ganz schwarz vor Augen. Was soll das jetzt bitte heißen?
Max fällt sein Holzauto runter und Karin muss sich instinktiv danach bücken. Mit Max auf dem Schoss und dem Blick noch halb auf der Kugelschreiberspitze und den schwarzen Flecken. Gleich literweise schießt ihr das Blut in den Kopf und gluckert in ihren Ohren. Für einen Moment ist sie wie taub und muss den Arzt fragend anschauen, als sie wieder hoch kommt und ihn endlich wieder ganz anblicken kann. Weil er die Röntgenaufnahme wieder weggelegt hat und Karin wieder oben auf ist. Und dann schüttelt sie schnell den Kopf und das Blut zurück in den Bauch und senkt die Augenbrauen. „Ich verstehe kein Wort“, gesteht sie.
Der Arzt, der nicht drum herum reden wollte, sagt nun ziemlich ausschweifend: „Früher nannten sie das Mongoloid, aber das klingt eigentlich härter, als es ist. Und so schlimm ist das eigentlich auch nicht ... Letztendlich kann das bei jedem Kind anders sein. Und man kann auch heutzutage ziemlich viel korrigieren, allein mit Ergotherapie schon – reinste Wunder im Vergleich zu früher. Ich meine, zu viel Hoffnungen – nicht wahr? Aber trotzdem: Bei manchen merkt man es fast gar nicht. Nur halt bei den anderen ...“
Karin versteht noch immer nicht. Irgendwas muss der Arzt gesagt haben, als sie sich nach dem Auto bückte. Oder ging es durch sie durch, haben ihre Ohren auf eigene Verantwortung irgendwas nicht weitergeleitet. weil es vielleicht so besser wäre?
Der Arzt seufzt tief und Karin spürt, dass er gedanklich zum Tiefschlag, zum absoluten Knockout ansetzt. „Haben Sie schon mal was von Trisomie gehört?“, fragt er dann, „Trisomie einundzwanzig? Vielleicht kennen Sie es auch als Down-Syndrom? Sie wissen schon ... Die Chromosomen.“
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