Karin trinkt jetzt viel Tee statt Kaffee und ist noch öfter im Garten als sonst eh schon. An der frischen Luft eben. In der Natur, die hier aus hundertfünfzig Quadratmetern besteht (vor dem Haus sind noch mal ein paar Quadratmeter Steingarten und Vorgarten und Hecke, aber die zählen nicht ganz, weil gleich dahinter die Straße ist mit ihrem Asphalt und dem Lärm morgens und nachmittags und weil dort Karin jeder sieht).
Manchmal fragt sie sich, ob sie jetzt schon mit dem Bauch reden sollte, wenn sie ihn einölt wegen der Schwangerschaftsstreifen und damit die Haut nicht reißt. Oder ob sie Musik dabei spielen sollte, irgendwas Klassisches. Oder ob sie es ihren Eltern schon sagen sollte, damit es endgültig und unumstößlich echt und real wäre. Oder ob es vielleicht auch schon reichen würde, wenn Stefan seine Hand auf ihren Bauch legte. Aber daran zweifelt Karin dann doch: weil da ein komisches Gefühl in ihr ist, wenn sie nach dem Baby in ihr forscht. Mit all ihren ganzen Sehnen und Muskeln und dem Blut forscht sie und weiß bald: Lieber nichts den Eltern sagen, lieber nicht Stefan so genau danach fühlen lassen. Denn diesmal ist nicht nur irgendwas, sondern gleich alles komplett anders: Diesmal stimmt da irgendwas aber so was von nicht.
Die Frauenärztin spritzt Karin immer wieder das kalte Gel aus der Tube auf den Bauch, den man noch gar nicht richtig sehen kann. „Nee“, sagt sie und fährt mit dem Ultraschallgerät über die glänzende Haut, „sieht ganz gut aus, alles dran, was dran sein muss. Freuen Sie sich ruhig, das wird ein ganz prächti ...“ Mehr will Karin nicht wissen, wegen der Spannung. Sie wedelt mit den Händen, damit die Frauenärztin schweigt. Stefan, der zwar nicht hier ist, aber Karin vielleicht dann doch etwas anmerken könnte, wenn sie es schon weiß, Stefan soll im Kreissaal dabei sein und es erst dort und auch als erster erfahren. So war das schon bei Max und schön gewesen und so war das genau richtig für sie beide. Junge oder Mädchen, das soll nebensächlich bleiben – und gleichzeitig auch eine Riesenüberraschung. Hauptsache gesund, denkt sich Karin und bekommt eine Gänsehaut dabei. Nicht nur wegen dem kalten Kontrastgel auf ihrem Bauch.
„Sie müssen sich schonen, auch von innen. Sie müssen jetzt entspannen“, rät die Ärztin, die es schließlich wissen muss. „Stress und innere Blockaden stören das Kind. Stellen Sie sich vor: Das kriegt jede Regung von Ihnen mit, auch die im Geist.“ Und weil Karin nur das Beste für ihr Kind will, plant sie jetzt noch mehr Entspannungspausen ein und legt sich nachmittags häufiger aufs Sofa und pausiert auch von Max und hört eben jetzt doch klassische Musik. Und weil sie die nur ganz kurz ertragen kann, dann schnell wieder Smooth Jazz und Kuschelrock.
Das entspannt auch.
Sonst.
Immer.
Aber leider jetzt nicht, weil es trotz der Musik so ruhig im Wohnzimmer ist. Beängstigend ruhig beinahe schon. Das lässt Karin nachdenklich werden und sie stellt sich vor, dass dem Kind vielleicht die eine Niere nicht richtig wächst. Im Fernsehen hat sie mal gesehen, dass man das heute schon operieren kann, wenn das Kind noch im Bauch der Mutter und noch gar nicht richtig da ist. Das ist enorm riskant, aber möglich. Möglich auch, dass sich das Kind trotzdem ganz normal entwickelt und normal geboren wird und dann normal ist. Auch geistig. So was gibt’s, Karin hat es gesehen.
Aber was ist mit den Krankheiten, die man nicht sehen kann, weil vielleicht die Geräte der Frauenärztin dafür nicht ausreichen? Oder ihr Sehvermögen? Das sind doch eh nur alles schwarze Schatten auf dem Bildschirm, da kann man schnell etwas übersehen. Aber dieses Etwas ist vielleicht gerade wichtig. Und dann wird es nicht operiert und wächst sich aus und dann kommt das Baby zwar normal auf die Welt und alles war ganz okay, aber ist dann eben nicht normal und hat was. Zum Beispiel eine kaputte Niere.
Karin wird kalt bei diesem Gedanken. Lässt es sich eigentlich noch gut mit nur einer Niere leben? Und was wächst da, wo die zweite Niere sein müsste? Nervös geht sie ins Kinderzimmer und spielt mit Max, der seine Eisenbahn endlos auf den Schienen kreisen lässt. Immer im Kreis lang, immer die rote Lokomotive vor den gelben Anhängern. Max sitzt in der Mitte von dem Gleiskreis und lässt die Lok kreisen. Er lacht nicht, es ist ihm ernst, er ist konzentriert und hat keinen Blick für Karin, die in letzter Zeit oft keinen Blick für Max hat, und so kann Karin nur zugucken. Ihre halbherzigen Fragen stören. Max hat keine Lust, mit Karin zu reden, wenn die Lok kreist. Und Karin hat eigentlich auch ziemlich schnell keine Lust mehr, mit Max zu spielen, und dann ist ihr langweilig dabei, aber sie versucht trotzdem, die magnetischen Anhänger so zusammenzustecken, wie Max es von ihr verlangt. Wenn er es nicht gleich selbst macht. Aber Karin will doch dabei sein! Als ob die Nähe von dem baldigen Bruder dem anderen Kind guttun würde. Und ihr auch ein bisschen.
Aber dann fährt Max wieder zu schnell mit der Lok, wieder springt ein Wagen ab – und Karin darf nicht mehr den einen an die anderen stecken. Max will lieber alleine spielen. Vielleicht spürt er ja, dass Karin eine Mogelpackung mit sich rumschleppt, denkt Karin ängstlich. Vielleicht spürt er auch, dass ich nur halb dabei bin und nicht direkt wegen ihm.
Abends, als Stefan zu ihr rüberkommt, lässt Karin Stefan machen. Ohne Gummi, obwohl sie das nicht mag. Wegen der Laken und dem ganzen Dreck dann in ihr. Weil sie dann noch mal aufstehen und ins Bad muss und wieder kalte Füße bekommt, während er dann immer schon schläft, wenn sie zurückkommt und nicht einschlafen kann wegen der kalten Füße und dem nassen Fleck im Bett, neben dem sie sich wegschlängelt. Aber jetzt doch ohne. Als ob das zusätzliche Sperma dem Kind guttun würde. Nachträglich noch ein paar Gene mehr. Vielleicht sind bessere dabei. Vielleicht fühlt sich Karin irgendwann besser damit. Vielleicht fühlt sie sich dann unter Stefan einmal so geborgen, dass sie dem Kind in ihr dasselbe Gefühl vermitteln kann. Und dann hört das vielleicht auf, sich so seltsam in ihr anzufühlen.
Karin weint leise vor sich hin.
Stefan ist überrascht. „Was hast du denn?“, fragt er.
„Nix“, sagt Karin und wischt die Träne weg und versucht, so zu lächeln, dass es kaum anstrengt und trotzdem Stefan beruhigt, damit er Ruhe gibt.
Stefan sagt wieder: „Was hast du denn, es läuft doch alles nach Plan.“ Aber genau das bezweifelt Karin ja heimlich, nur für sich, und fragt kaum hörbar: „Und was, wenn nicht?“ Aber das flüstert sie so leise vor sich hin, ins Dunkel vom Schlafzimmer rein, und Stefan, der schon gekommen und deshalb schon ziemlich müde ist und eigentlich nur noch schlafen will, streichelt ihr den Hals und das Haar hinters Ohr und sagt nur: „Ach du nun wieder...“ oder „Sch, sch, sch“, als wäre das eine Antwort.
Aber weil Karin eben ganz dringend eine Antwort auf ihre Frage braucht – nicht für das Kind, sondern für sich –, geht sie noch einmal zum Arzt. Zu einem anderen, für weiterführende Untersuchungen. Weil sie noch nicht im kritischen Alter ist und auch keine genetischen Belastungen in der Familie hat und Stefans vererbtes Herzproblem außer Karin noch keinem bekannt ist, muss sie das ganze Fummeln und Piksen und Auswerten selbst bezahlen. Ein Heidengeld, aber wenn’s hilft! Und es hilft ja schließlich irgendwie auch dem Kind, wenn Karin wieder gut schlafen kann, ohne Sorgen. Und das wiederum hilft dann auch Stefan, der gar nicht weiß, dass er sich Karins Ruhe neuerdings kaufen muss und könnte. Das macht Karin für ihn.
Ruhe ist wichtig, überlebenswichtig, das hat ja auch die Ärztin gesagt, und insofern ist diese enorme Zusatzausgabe doch gerechtfertigt und damit eigentlich auch gar nicht so enorm, oder? Stefan muss es ja nun wirklich nicht unbedingt wissen. Und es ist ja nicht so, als ob Stefan es nicht hätte – sie es nicht hätten. Und man lebt ja auch nur einmal. Und es geht ja ums Leben!
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