1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 »Oh mein Gott!«, stieß er aus und sie stand auf und hob unschuldig die Hände. In einer hielt sie … eine Pistole. Eine gottverdammte Pistole.
»Du warst das! Du hast mich niedergeschlagen!«, keuchte er mit wild pochendem Herzen und fasste sich an den Hinterkopf. Wieso hatte sie das getan? Seit wann war sie hier? Und was von alldem, was er eben gesehen hatte, war real gewesen?
»Du hättest mich fast umgebracht!«, erwiderte sie mit einer viel selbstsichereren und festeren Stimme als noch vor ein paar Stunden. Sie war wie ausgewechselt. Ein anderer Mensch. Sein Blick wanderte an ihr einmal herauf und wieder herab. Violet war in eine schwarze Lederjacke gehüllt, auf der an der linken Schulter wieder dieses Symbol zu sehen war: Das A umgeben von dem C, oben ein Kreuz, unten ein umgedrehtes. Das gleiche, das er als Tätowierung an ihrem Handgelenk gesehen hatte.
Er starrte in ihr Gesicht. Ihr kupferblondes Haar hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden, was sie viel harscher und bestimmter aussehen ließ. Er ertappte sich dabei, wie ihm bei ihrem Anblick ein Schauder den Rücken hinunterlief.
»Wie kommst du überhaupt hier rein!? Und was soll das alles?« Evan wich ein paar Schritte zurück, taumelte gegen die Küchenablage und schnappte sich ein Messer. Er wusste selbst nicht genau, wieso. Gegen eine Pistole würde er damit schließlich recht wenig ausrichten können.
»Ich bin nicht der Feind, Evan. Ich will dir ja helfen!« Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, doch er wich weiter vor ihr zurück. Alles war doch so verrückt geworden, seit er sie kannte. Sie musste etwas damit zu tun haben.
»Wie verdammt kommst du in diese Wohnung?«
Sie griff in ihre Jackentasche und zog eine verbogene Haarklammer hervor. »Damit.«
Er runzelte die Stirn. »Du bist hier eingebrochen!?«
»Ich musste es tun! Mir war klar, dass es dir schlechter und schlechter gehen würde. Ich will dir helfen! Das kann ich, vertrau mir, das kann ich.«
Er sah sie einen Moment lang bloß entgeistert an. Es fühlte sich an, als würde er sein letztes Fünkchen Verstand verlieren.
»Verschwinde hier!«, rief Evan schließlich. »Raus!« Er drohte ihr mit dem Messer, doch sie stöhnte bloß unbeeindruckt auf. »Evan, pack dein Zeug und dann komm mit mir. Sonst muss ich dich zwingen.«
»Ich komme nicht mit dir. Das geht nicht. Und jetzt verschwinde! Verdammt, ich rufe die Polizei!«
Violet behielt vollkommene Ruhe, während er nichts lieber getan hätte, als in einer Tour loszuschreien.
»Wenn es dir um Mick geht: Ihm geht es gut. Evan, ich regele das mit deinem Job, ich regele das mit deinen Eltern, ich regele alles für dich. Du musst dich um nichts kümmern, du musst nur mit mir kommen und mir vertrauen, sonst wirst du jeden Tag diese Kopfschmerzen haben, die Erinnerungen werden dich jeden Tag plagen, du wirst jede Nacht so gequält werden! Und es wird dich in den Wahnsinn treiben, bis sich deine Stimme verändert, dein Aussehen sich verändert und du Menschen wehtun wirst! Vielleicht sogar dir selbst! Evan, bitte.«
Evan sah sie an und seine Unterlippe begann zu beben. Entsetzt stöhnte er auf und ließ schließlich klirrend das Messer fallen. »Woher weißt du, was mir passiert ist?« Ihm schwirrte der Kopf und in seinen Augen brannten Tränen der vollkommenen Verzweiflung. Er vertraute ihr nicht. Und doch schien sie genau Bescheid zu wissen, was mit ihm im Gange war.
»Ich habe eine Bank ausgeraubt.«
»Was?«
»Ja. Eine Bank ausgeraubt. Ich bin da eingebrochen - frag nicht, wie, ich könnte es dir nicht sagen - und habe eine alte Dame geschlagen, damit sie mir aus dem Weg geht. Ich habe Menschen bedroht, Angst geschürt. Das Geld war dem Dämon egal, der mich unter Kontrolle hatte.« Sie hielt kurz inne und kämpfte damit, weiterzusprechen, aber ihre Stimme klang gefasst. »Und als ich wieder zu Hause war, hatte ich alles vergessen. Dann kamen irgendwann die Kopfschmerzen, so wie bei dir. Und das liegt nicht an uns, Evan. Jemand hat uns das angetan! Wir sind nicht so! Und jetzt komm mit mir, damit ich dir helfen kann.«
Evan atmete aus, zitterte am ganzen Körper. Er zitterte, weil er sich fürchtete und er zitterte, weil er ihr so sehr Glauben schenken wollte. Er wollte ihr glauben, dass sie wusste, wie er all das loswerden und wieder zu sich selbst finden konnte. Und wenn nicht, dann hatte er ohnehin nichts mehr zu verlieren. Also ignorierte er die Träne, die seine linke Wange hinablief. »Wo bringst du mich hin?«
Violet lächelte. »Ins Angelus Clamor.«
Evan hatte nur das Nötigste eingepackt. Zahnbürste, ein paar Klamotten und solchen Kram. Er hatte keine Ahnung, auf was er sich eingelassen hatte, als er mit Violet ins Auto gestiegen war und hatte nicht mal Mick gesagt, wo er hinging. Aber er musste mit ihr gehen und ihr blind vertrauen. Sie schien tatsächlich zu wissen, was er durchgemacht hatte und ihr zu folgen kam ihm gerade vor, wie die einzige Chance, zu erfahren, was mit ihm geschehen war. Die tote Frau, die Kopfschmerzen, sein verändertes Gesicht und die grässlichen Erinnerungen. Er war kein Mörder und doch war er es. Und sie sagte ihm, dass ihr so etwas ähnliches widerfahren war, sagte ihm, er sei nicht für das verantwortlich, an das er sich erinnerte. Violet musste ihm einfach helfen können. Ja, sie würde ihm helfen und dann würde er in sein altes Leben zurückkehren und alles wäre in bester Ordnung.
Sie saßen in ihrem blauen Ford und fuhren durch Brighton. Evan klammerte sich verkrampft am Autotürgriff fest. Er wusste nicht, wieso. Vielleicht, um nicht mit dem Schwindelgefühl davongetragen zu werden, vielleicht, weil ihm das die Illusion gab, im Notfall vor der Frau mit Pistole, die neben ihm saß und die er seit einem Tag kannte, fliehen zu können.
»Ich hab Menschen ermordet«, platzte es plötzlich aus ihm heraus. Er hatte es noch nie zuvor ausgesprochen und seine eigene Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken.
Violet seufzte und wandte kurz den Blick von der Straße ab, um ihn anzusehen. »Aber das warst nicht du. Das war alles nicht deine Schuld. Evan, das wozu man dich gezwungen hat, ist so viel schlimmer als das, was mir widerfahren ist. Es tut mir so, so leid.«
Er fuhr sich nervös durch die Haare und schluckte, um seine trockene Kehle zu beruhigen, was ihm nicht gelang. »Ich hatte ein tolles Jahr in New York, aber als ich zurückgekehrt bin, war nichts mehr wie vorher. Violet, was ist mir passiert?« Seine Stimme brach beim letzten Wort und er musste die Tränen mit aller Kraft zurückhalten.
»Weißt du, ich bin aus Chicago hierher gezogen, damit ich hier Hilfe bekomme. Julian hat verstanden, was mit mir geschehen ist. Er hat gesehen, wie es um mich stand. Hast du eine Ahnung, was für ein Glück ich hatte, dass er da war und das gleiche durchgemacht hatte? So ein Glück hast auch du. Es gibt wahrscheinlich noch etliche andere Menschen auf dieser Welt, denen es genauso geht wie uns, nur, dass sie nicht gerettet werden, weil sie niemand findet.«
»Was redest du da? Ich bin ein Mörder, das hast du schon verstanden, oder!? Wie zum Teufel soll ich noch gerettet werden?«
Violet atmete angestrengt aus. »Vorsichtig mit deiner Wortwahl, Evan.« Sie schmunzelte. »Im Camp gibt es Mittel und Wege, dich von alldem zu befreien.«
»Camp? Angelus Clamor? Engel … Schrei?«
Sie nickte.
»Müsste das nicht eigentlich irgendwie anders heißen? Im Sinne von ein Engel schreit … oder so?«
»Nein, so ist das nicht gemeint. Angelus, weil es nur einen Engel gibt und Clamor, weil er nicht der Einzige ist, der schreit…oder weint. Wie man’s nimmt. Es ist wie ein einziger Schrei, ein einziges Klagen. Vereint.«
Evan nickte und eine unbehagliche Stille erfüllte die Luft, die schwer auf seinen Schultern lastete. So wie Violet vom Angelus Clamor sprach, kam ihm dieses Camp vor wie eine Sekte oder irgendein kranker Kult und für einen Moment zweifelte er stark, ob das wirklich so eine gute Idee war, mit ihr zu fahren.
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