Das war bestimmt Violet, die sich Sorgen wegen seines merkwürdigen Anrufs machte. Was für eine dumme Idee das gewesen war, sie anzurufen. Das Handy klingelte immer noch.
»Evan, geh an dein scheiß Handy!«, ertönte Micks Stimme. Dieser faule Idiot.
Erschöpft, mit verquollenen Augen und steifen Gliedern, rappelte Evan sich schließlich auf und griff nach dem Smartphone, ohne nachzusehen, wer anrief.
»Hallo?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Randall! Wolltest anrufen, wenn du wieder da bist. Ich fang direkt an, wenn ich wieder in Sweet Brighton bin. War Teil der Vereinbarung. Schwing deinen Hintern oder du hast ‘nen Ausbildungsplatz gehabt!«
»Oh Scheiße«, stöhnte Evan. Das war Mr Danburry. Sein Chef!
»I-Ich weiß, Mr Danburry. Ich bin morgen sofort da, okay? I-Ich fühl mich heute nicht besonders und ich würde mir für heute gern frei nehmen. Magendarmgrippe.«
Stille. Mr Danburry brummte widerwillig. »Schön, Grünschnabel. Weil ich dich leiden kann. Morgen bist du da oder ich stell doch die Alte mit Mundgeruch ein. Scheiß auf deine Scheißerei.«
»Ich werde da sein. Versprochen.«
Mr Danburry legte auf.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Evan und trat wutschnaubend gegen das Tischbein. Bei allem, was los war, hatte er tatsächlich vergessen, seinen Chef anzurufen und das Einzige schweifen lassen, an dem ihm wirklich etwas lag. Allerdings zweifelte er jetzt gerade daran, ob er je wieder fotografieren würde. Eigentlich gehörte er ins Gefängnis.
Er hielt inne. Es erschütterte ihn, wie trocken er diesen Gedanken gefasst hatte. Aber es stimmte ja. Evan warf einen Blick auf die Pistole. Er gehörte ins Gefängnis.
Evan hatte den Koffer wieder eingeräumt – inklusive der Waffe. Wie auch immer es möglich war, dass er das Ding durch die Flughafenkontrollen bekommen hatte: Er wollte an all das keinen einzigen Gedanken mehr verschwenden. Es machte ihn vollkommen krank. Und wenn er es schaffen würde, es einfach zu ignorieren, würde er es vielleicht irgendwann vergessen können, um normal weiterzumachen. Niemand außer ihm schien zu wissen, was geschehen war. Niemand wusste von der Waffe. Es war unmöglich, aber es musste so sein, denn sonst säße er jetzt wirklich hinter Gittern.
Nicht daran zu denken, gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht – vor allem, wenn man ausgefragt wurde. Mick war das alles scheinbar scheißegal, aber gegen Abend klingelte es an der Tür und es war Violet, die sich nach seinem Anruf wohl schreckliche Sorgen gemacht hatte.
Evan räusperte sich unbehaglich. »Oh, hi! Was gibt’s?«, fragte er und tat, als wüsste er nicht, wieso sie hier aufkreuzte. Natürlich klang er völlig aufgesetzt. Am liebsten hätte er sie ja auch wieder weg geschickt, aber stattdessen ließ er sie herein.
Sie sah ihn aufgebracht an. »Das weißt du nicht!? Dein Anruf hat mich ganz verrückt gemacht. Ich mein – wir kennen uns nicht und so, aber du hast geklungen, als wenn du jeden Moment stirbst!«
Er sah sie mit gerunzelter Stirn an und dann musste sie lachen. »Okay, sorry. Ich reagier wahrscheinlich echt etwas über, was?«
Irgendwie tat sie ihm leid. Aber er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. »Ich hatte mich nur verschluckt und dann hat Mick mich gerufen. Tut mir leid, dass ich einfach so aufgelegt hab.«
»Ja, schon in Ordnung. Ich komm mir nur echt dämlich vor, weil ich für einen Typen, den ich nicht kenne, hierher gefahren bin, nur um mich zu erkundigen, wieso er sich verschluckt hat.« Sie lachte ihr nervöses, unsicheres Lachen.
Sie schwiegen einen Moment.
»Willst du Kaffee oder so? Tee?«
»Ähm, ja gern. Kaffee.«
Er hatte eigentlich inständig gehofft, dass sie nein sagen und wieder verschwinden würde. Er wollte nicht mit ihr sprechen, sondern allein sein. Das war auch das Gute an Mick: Eigentlich lag er nur den ganzen Tag rum und tat … naja – nichts. Und er sprach auch nicht wirklich viel, stellte keine Fragen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war er Evans bester Kumpel.
»Milch? Zucker?«
»Milch. Danke.« Violet setzte sich und Evan betätigte die Kaffeemaschine. »Du…bist also aus Chicago?«, fragte er der Höflichkeit halber und damit keine unangenehme Stille entstand.
Sie nickte. »Stimmt. Ich bin mit fünfzehn hergezogen.«
»Und du bist jetzt…?«
»Ich bin vor ‘nem Monat achtzehn geworden.«
»Das heißt, du bist mit der Schule fertig?«
Sie lachte.
»Was?«
»Hab die Schule abgebrochen.«
Evan stellte ihr den Kaffee und sich selbst Tee auf den Tisch und setzte sich.
»Wo ist dein Mitbewohner? Mick, richtig?«
Evan trank einen Schluck aus seiner Tasse und nickte. »Er ist’n echter Faulpelz. Liegt den ganzen Tag rum.«
»Und du schmeißt dann den Haushalt?«
»Tja, so sieht’s aus.«
»Hör mal, ich muss dich mal was fragen.«
Er runzelte die Stirn, war so weit weg von all den grässlichen Erinnerungen, dass er hoffte, sie würde den Moment nicht zerstören. Doch das tat sie.
»Hast du gestern zu viel getrunken, oder was war los? Ich hab dich auf’s Klo rennen sehen. Du sahst echt nicht gut aus.«
Evan holte tief Luft und atmete angestrengt aus. »Ich trinke keinen Alkohol. Das liegt momentan alles wohl am Jetlag.«
»Oh, okay. Und du trinkst nicht? Ich meine - nie?«
»Ja, ich … ich halte da einfach nichts von. Vielleicht klingt das spießig, aber … ich seh da für mich einfach keinen Sinn drin. Pass auf, was du in deinen Körper einlädst – das hat meine Mum immer zu mir gesagt. Ich glaub, das ist hängen geblieben.«
»Das klingt nicht spießig. Ich mag die Einstellung. Noch irgendwas, worauf du verzichtest, außer dem Alkohol?«
»Naja, ich bin kein großer Kaffeetrinker und … außerdem Vegetarier.«
»Oh man, das bewundere ich. Ich hab das auch mal versucht, aber nie durchziehen können. Wie lange bist du’s schon?«
»Seit ich neun oder zehn bin. Als ich erfahren habe, was das ist, das meine Eltern mir da hingestellt haben, hab ich angefangen, zu weinen und mich geweigert, je wieder Tier zu essen.«
»Ist ja echt süß. Hey, kann ich mal die Toilette benutzen?«
»Klar. Du weißt ja, wo sie ist.«
Violet stand auf und verschwand hinter der Tür, wo sie ihr Handy hervornahm und die gleiche Nummer wie am Abend zuvor wählte. »Hey, ich bin’s. Er ist einer von uns und ich kann nicht mehr lang mit seiner Rekrutierung warten. Im Ernst. Außerdem ist sein Potential…beinahe schon gruselig. Hören Sie, wenn ich ich ihn heute nicht hole, gebe ich ihm höchstens noch zwei Tage, bis es nicht mehr er ist, der aus ihm spricht…Okay…Ja…Ich hol mir die Ausrüstung nachher noch ab. Genau. Bis später.«
Evan tippte nervös gegen seine Tasse. Sein Blick ging dabei immer wieder zu seinem Koffer, der neben der Tür stand. Unglaublich, aber für die kurzen Momente, in denen er mit Violet gesprochen hatte, hatte er verdrängen können, was geschehen war.
Er nippte am Tee. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Irgendwas war schrecklich falsch mit ihm und er hatte Angst. Angst, die ihm die Kehle zuschnürte, Angst, die— Er war ganz in Gedanken versunken, als Violet mit dem Handy am Ohr zurückkam. »Okay, Mum. Bis dann«, sagte sie und legte auf.
»Oh. War das deine Mutter?«
Violet nickte. »Sie hat gerade angerufen und will, dass ich vorbeikomme.«
Evan spürte einen Anflug von Erleichterung. Wenn sie weg war, konnte er sich wieder seinem Wahnsinn widmen, ohne seine Verzweiflung verstecken zu müssen. Außerdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, tatsächlich noch einmal Stück für Stück das letzte Jahr durchzugehen, ehe er eine Entscheidung über seinen Wahnsinn traf. Vielleicht würde er sich stellen. Ja, auch das war eine Möglichkeit. Denn vollkommen verdrängen konnte er die Erinnerung niemals.
Читать дальше