Er nahm aus dem Koffer noch die sündhaft teure Armbanduhr von Piguet, die er seiner Mutter aus New York mitgebracht hatte und legte sie auf dem Tisch ab, ehe er ins Bad ging: Den Raum, in dem er gestern zusammengebrochen war.
Er schälte sich aus seiner Kleidung und drehte das eiskalte Wasser in der Dusche auf. Evan stieg hinein und ließ das Wasser auf seine helle Haut herab rieseln. Eine Gänsehaut schüttelte ihn, aber er zwang sich, unter dem kalten Strahl stehenzubleiben. Es fühlte sich gut an, den letzten Tag abzuwaschen und er musste den Kopf freikriegen und zwar dringend. Seine Eltern – allen voran seine Mutter – würden ihm auf der Stelle ansehen, wenn etwas mit ihm los war. Aber wie sollte Evan bloß verdrängen, was passiert war? Er wusste nicht, was mit ihm nicht stimmte oder wieso er plötzlich verrückt zu werden schien. Früher war so etwas nie geschehen. Nur dieses eine Mal vor elf Jahren und danach nie wieder. Bis gestern. Er versuchte krampfhaft, seine Gedanken jetzt auf etwas anderes zu lenken. Violet zum Beispiel. Er hatte ihre Handynummer und würde sie nachher anrufen. Hoffentlich hatte George ihr keine Probleme gemacht. Außerdem wollte e—
Und dann stürzten das erste Mal die Kopfschmerzen auf ihn herab. Ein Schmerz, als würde man ihm den Schädel teilen. Er stieß einen erstickten Schrei aus; seine Beine gaben sofort nach. Er hockte in der Dusche, mit verkrampftem Körper, schmerzverzerrtem Gesicht und einem Kopf, der wehtat als würde er jede Sekunde explodieren. Es war, als würde in seinem Schädel Krieg herrschen, als wäre darin etwas, das raus wollte. Er nahm nichts um sich herum mehr wahr. Da war nur noch der Schmerz. Er hörte nicht mal, wie er schrie.
Und dann ebbten sie ab. Vom einen auf den anderen Moment war der Schmerz weg. Keuchend öffnete er die Augen, die er vor Leid zusammengekniffen hatte und erblickte Blut in der Dusche, sah, wie es in den Abfluss rann. Sofort sprang er auf und drehte sich herum, wirbelte umher, aber das Blut kam von ihm, es kam aus seiner Nase. Und es wurde mehr und mehr und er konnte es nicht stoppen! Er hatte schon so oft aus der Nase geblutet, aber der Schwall, der sich jetzt in die Dusche ergoss, war abnormal. Er taumelte aus dem Becken hinaus, riss dabei beinahe den Duschvorhang ab und stützte sich mit den Händen auf das Waschbecken, während er im Spiegel beobachtete, wie sein Gesicht sich veränderte, verzerrte, wie seine Haut verfaulte und seine Iris sich auf einmal gänzlich schwarz verfärbte.
»Oh mein Gott«, keuchte er. »Mick!«, schrie er jetzt. »Mick, hilf mir!«
Keine Reaktion. Natürlich nicht.
Es wurde immer schlimmer. Da war immer mehr Blut. Und da waren wieder die Kopfschmerzen.
»Mick, bitte!«, heulte er und dann öffnete sich endlich die Tür und hereingestürmt kam … seine Mutter. Und der Schmerz war verschwunden, genauso wie all das Blut und sein Gesicht sah aus wie immer. Seine Augen waren wieder grün.
»Mum!«, rief Evan erschrocken und sprang zurück in die Dusche.
»Evan, was … was ist los? Wieso hast du so geschrien?«, fragte sie völlig außer Atem. Er kniff verzweifelt die Augen zusammen und lehnte sich gegen die Wand. »E-Es ist nichts. Mum, ich … ich bin gleich fertig. Warte doch bitte in der Küche. Da steht was für dich. Ist … ist Dad auch hier?«
»Nein, ist er nicht, mein Junge. Geht es dir wirklich gut?«
Evan unterdrückte ein Wimmern. »Ja, Mum. Wir reden gleich. Geh jetzt bitte.«
Sie zögerte noch einen Moment, schloss dann aber die Badezimmertür, woraufhin Evan dankbar ausatmete.
Wahrscheinlich hatte sie sich einfach selbst aufgeschlossen. Er hatte ihr einen Schlüssel nachmachen lassen, damit sie reinkonnte, falls Evan die Klingel mal nicht hörte. Und Mick ging prinzipiell sowieso nicht zur Tür.
Evan drehte das Wasser ab und atmete heftig, fasste sich an die Nase, testete, ob er sich all das Blut wirklich nur eingebildet hatte. Und das hatte er. Da war nichts. Gar nichts.
»Ich hab dich so vermisst«, sagte Margret Randall, während sie umarmend in der Küche standen und strich ihrem Sohn über den Rücken.
»Ich dich auch, Mum.«
Sie gab ihn nur widerwillig frei. »Wie war’s in Amerika? Los, erzähl schon! Du hast so selten angerufen.«
»Tut mir leid, war viel los. Möchtest du Tee?«
»Nein, Schatz.«
Sie setzten sich an den Tisch. Evans Magen knurrte laut und er versuchte, es mit einem Husten zu verbergen. Er hatte nach wie vor nichts zu sich genommen.
»Wieso hast du nicht sofort angerufen, als du angekommen bist? Ich habe mir Sorgen gemacht, dass was passiert ist!« Ihre gerunzelte Stirn ließ sie um Jahre älter wirken. Evan hasste sich bei ihrem Anblick dafür, dass er sich so selten bei ihr gemeldet hatte.
»Das hat sich am Flughafen alles ziemlich in die Länge gezogen und der Zug hatte auch Verspätung. Tut mir leid. Ich hätte mich noch gemeldet.«
Sie lächelte ihn aus tiefstem Herzen an. Wenn sie nur wüsste, was mit ihm los war.
»Hast du schon gesehen? Die ist für dich.« Evan nahm die Piguet-Uhr und stellte sie seiner Mutter hin.
»Die ist wirklich unglaublich schön. Aber Ev, das wäre nicht nötig gewesen! Die hat doch bestimmt ein Vermögen gekostet.«
Er wollte gerade ansetzen, etwas zu erwidern, aber dann stutzte er. Er hatte die Uhr gekauft, daran erinnerte er sich klar und deutlich. Aber der Einwand seiner Mutter war durchaus berechtigt: Mit welchem Geld? Woher hatte er all das Geld gehabt? Er verdiente doch bei Weitem nicht so viel, dass er es sich würde leisten können, ein so teures Geschenk für seine Mum zu besorgen.
Evan räusperte sich. Er hatte absolut keine Ahnung und erinnerte sich nicht, wie das möglich war oder wann er den Entschluss gefasst hatte, diese Uhr zu kaufen. Aber er hatte sie bar bezahlt.
Und mit dem nächsten Schub der Kopfschmerzen kamen sie wieder - und zwar alle auf einmal: Die Erinnerungen.
Es war schon spät in New York. Evan saß am Lagerfeuer, zusammen mit Kaya, Ivy, Jimmy und Dave – Freunden, die er dort gefunden hatte. Er war jetzt bereits sieben Monate hier. Sie hatten sich in dieser Zeit schon oft am Ontario-See getroffen.
Die Stimmung war magisch: Es befand sich keine Menschenseele in ihrer Nähe und die dunkle Wolkendecke machte Platz für warmes Rot am Horizont.
»Und dann hat er sich in die Hose gemacht! Nein, lacht nicht, ich mein’s ernst! Er hat sich in die Hose gemacht!«, beendete Ivy die Erzählung eines Erlebnisses aus der zehnten Klasse und prustete los. Alle anderen stimmten mit ein. Alle, außer Evan.
»Evan, lach doch! Hör mal zu! Er hat sich in die Hose gemacht! In der zehnten Klasse!«, rief Ivy, boxte ihn freundschaftlich und krümmte sich vor Lachen.
»Fass mich nicht an.« Evan sprach nicht, aber die Worte kamen aus seinem Mund. Es war seine Stimme und doch war sie es nicht.
»Was, du Miesepeter?«, fragte Ivy und wuschelte ihm durchs Haar, aber Evans Blick ging weiterhin ins Leere.
»Ich hab gesagt, fass mich nicht an!«, brüllte er in die leise Nacht hinein und packte Ivy mit einer ruckartigen Bewegung am Hals.
Erstickt schrie sie auf, aber konnte kaum einen Laut von sich geben.
Die anderen waren sofort auf den Beinen, doch Evan drückte noch fester zu. Er spürte ihren dürren Hals zwischen seinen Fingern, konnte fühlen, dass schon bald der Knochen brechen würde, so übermenschlich fest war sein Griff.
Am Horizont begann das Rot, bedrohlich zu wirken.
»Was ist denn in dich gefahren!?«, rief Jimmy erschüttert. Auch Dave war der Schreck ins Gesicht gemeißelt. Sie griffen nach seinen Armen und rissen daran, wollten ihn von Ivy wegzerren, aber Evan war viel zu stark.
»Ich töte sie! Ich töte sie!« Ivys Augen traten weit hervor, es knackste unter seinen Fingern, doch sie trat noch immer um sich. Ihre irrwitzig gurgelnden Laute erklangen wie Musik in seinen Ohren.
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