Evan verdrehte die Augen und wandte sich wieder der Menschenmenge zu. Sofort stürmten einige auf ihn zu. Freunde, die er noch aus der Schulzeit kannte und eine ganze Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, Kollegen aus dem Fotostudio, Leute, die er noch nie gesehen hatte. Wo auch immer Preston all diese Menschen aufgetrieben hatte - die WG war prall gefüllt.
»Willkommen zu Hause«, hieß es von allen Seiten und es regnete Umarmungen und Händeschütteln. Die Wohnung war klein und durch die ganzen Menschen wirkte sie noch beengender.
Evan sah sich um. Immerhin hatte Preston für Mick hier aufgeräumt. Apropos Mick … »Hey, wo ist Mick?«, fragte Evan eine Blondine, die gerade dabei war, sich die Flüssigkeit aus ihrem Becher in den Rachen zu kippen. Er kannte sie von früher, hatte aber ihren Namen vergessen. Irgendwie fiel ihm jetzt erst so wirklich auf, dass er genau genommen bloß zwei richtige Freunde besaß und das waren Preston und Mick.
»In eurem Zimmer glaub ich.«
Evan nickte und bahnte sich einen Weg durch die lachenden Leute. Natürlich war Mick nicht begeistert von dieser Party – dieser Faulpelz. Wahrscheinlich lag er im Bett und schlief.
Evan steuerte auf ihr Schlafzimmer zu – aus der Anlage dröhnte die wummernde Musik –, als irgendetwas Feuchtes sein Hemd traf. »Oh verdammt!«, rief das Mädchen erschrocken, das soeben ihren Drink auf ihn verschüttet hatte.
Evan hielt inne und seufzte. »Macht nichts.«
Aber sie hatte sich bereits Tücher geschnappt und tupfte sein Hemd ab. »Sorry. Tut mir leid – eigentlich solltest du ja hier der Ehrengast sein.« Sie lachte nervös.
Evan kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen. So wie auch die Hälfte der anderen Leute, die sich hier rumtrieben.
»Lass gut sein, das kann ja passieren.«
Sie hielt inne. »Ich bin Violet. Wir kennen uns noch nicht. Preston hat mich eingeladen.«
»Ja, stimmt. Ich bin Evan, aber das hat er dir ja sicher gesagt.«
»Hat er.« Ihre dunklen Augen huschten nervös im Raum umher. »Ein Jahr Amerika also, was?«, nahm sie das Gespräch schließlich wieder auf und kam mit ihrer dünnen Stimme kaum gegen die Basstöne an, die über sie hinweg rollten.
»Ja … Ich brauchte einfach mal was andres, weißt du?«
»Klar, ich verstehe. Wo genau warst du denn? Ich komme ursprünglich aus Amerika.« Er zog die Augenbrauen hoch. Ihren Akzent hörte er kaum, aber vielleicht lag das auch daran, dass er sich im letzten Jahr so daran gewöhnt hatte.
»New York. Mittendrin.«
Violet lächelte. »Ja, New York ist super; ich bin aus Chicago. Aber für mich geht mittlerweile nichts über England.«
»Für mich auch nicht. Amerika ist laut und bunt und voller Licht und hier ist es … Ich weiß auch nicht …«
»Harmonischer?«
Er nickte. »Violet, ich hab meinen Mitbewohner noch nicht gesprochen, entschuldige mich kurz, ja?«
»Na klar.«
Evan ließ sie stehen, ging zur Tür des Schlafzimmers und wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen. Mick wollte wahrscheinlich seine Ruhe. Evan hämmerte dagegen. »Mick, ich bin’s, Kumpel.«
Keine Antwort.
»Mick!«
Dann öffnete sich endlich die Tür, Evan trat ein und verschloss sie gleich wieder, damit keiner der anderen auf die Idee kam, es sich hier gemütlich zu machen.
Mick sah ziemlich heruntergekommen aus; seine schwarzen Haare waren fettig und lang und ihm war ein Bart gewachsen. Außerdem gewannen seine Rundungen so langsam immer mehr die Überhand.
»Evan, du Spinner«, begrüßte er ihn und ließ sich mit einem lauten Stöhnen wieder in sein Bett fallen.
»Micky.«
Er gähnte laut, während Evan sein Hemd aufknöpfte und schnell ein anderes überstreifte.
»Zusammenstoß mit einem der Partygirls gehabt?«
Evan nickte. »Violet. Ich kenn sie gar nicht.«
»Ja, Preston hat ‘ne Menge Idioten eingeladen«, gab Mick schleppend zurück und er lallte ein wenig, was aber mehr an seiner ständigen Müdigkeit lag, als an der kleinen Alkoholfahne, die von ihm ausging. »Schön, dass du wieder da bist.«
Evan lächelte. »Ich bin so müde.« Seine Augenlider wurden immer schwerer und schwerer.
Mick gähnte und Evan stimmte gleich mit ein.
»He, du hässlicher Vogel«, rief Mick ihm zu, während Evan sich auf seinem Bett niederließ.
»Was denn?«
»Du solltest jetzt raus gehen und mit den Leuten reden, die gekommen sind, um dich wieder willkommen zu heißen.«
»Du hast recht, ich leg mich nur mal kurz hin.« Seine Lider waren so schwer, sein Kopf schien wie mit Watte gefüllt. Er musste jetzt dringend schlafen. Aber es hämmerte an die Tür und Evan war sofort wieder hellwach.
»Schicksal«, sagte Mick und lachte, während er sich auf die Seite drehte.
Evan hätte das jetzt auch gern getan, aber erst musste er verhindern, dass die Tür zu seinem Schlafzimmer eingetreten wurde. Er riss sie auf und George Walton taumelte sturzbesoffen ins Zimmer. Evan packte ihn am Kragen und schob ihn wieder raus, schloss die Tür hinter sich.
George hatte gemeinsam mit ihm die Ausbildung zum Fotografen begonnen, aber war jetzt natürlich bereits im zweiten Jahr, während Evan mit seinem Chef die Vereinbarung getroffen hatte, seinen Ausbildungsplatz behalten zu können.
»George, hallo? Das Zimmer ist tabu.«
»Toilette«, nuschelte er angestrengt; Evan verstand kein Wort. Er packte ihn an den Schultern. »Du bist ja sturzbesoffen, verdammt!«
»Wo’s die Toilette?«, startete George lallend seinen nächsten Versuch, Evan mitzuteilen, was er wollte.
»Toilette?«
George nickte und rülpste laut.
»Hey, jetzt ja nicht kotzen, Mann!«, warnte Evan und stützte George unter der linken Schulter, aber er konnte ja nicht mal mehr richtig gehen.
»Warte, ich helfe dir!« Violet eilte herbei und griff George unter die andere Schulter.
»Oh. Danke.« Jetzt war es Evan, der nervös lachte.
»Komm, bringen wir ihn zur Toilette. Wo lang?«
Menschen stießen gegen sie, die Musik war so laut, dass Evan der müde Kopf dröhnte. Er würde, gleich nachdem er sich um George gekümmert hatte, ein Wörtchen mit Preston reden und die ganzen Leute rausjagen.
»Warte, ich werde erstmal mit ihm reden … George, bist du mit dem Auto hier? Kann dich jemand nach Hause fahren?«
Er schüttelte den Kopf. »A-Allein. Mit’m Auto«, gab er zurück.
»Scheiße.«
»Evan, du siehst echt müde aus. Wenn du dich ausruhen willst – ich kann ihn auch nach Hause fahren. Mein Auto steht unten.«
»Das wäre toll, Violet. Danke. Echt. Ich weiß nicht, ob ich in dem Zustand noch fahren kann.«
»Ist kein Problem.«
»Kann ich dich morgen anrufen, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist?«
»Natürlich. Gib mir dein Handy.«
Evan holte es aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. Als sie es entgegennahm, fiel ihm eine Tätowierung an ihrem Handgelenk auf. Dort, wo die Pulsschlagader entlanglief. Er hatte nur kurz einen Blick darauf werfen können. Es sah aus wie ein A, umgeben von einem C. Oben auf dem C stand ein Kreuz und unten war auch eins, aber es war umgedreht. Er hätte sie gern danach gefragt, aber jetzt hatte er andere Dinge im Kopf.
Violet hatte ihre Handynummer eingetippt und reichte ihm sein Smartphone wieder.
»Okay, jag die Leute raus, ich übernehme ab hier.«
Evan lächelte sie dankbar an und suchte mit seinem Blick die WG ab. Preston. Wo war er?
»Entschuldigung, habt ihr Preston gesehen?«, wandte er sich an eine Gruppe Mädchen, aber sie schüttelten alle den Kopf. Dann an eine Gruppe Jungs: »Hey Leute, wo ist Preston?»
Aber auch sie wussten es nicht. Er wollte sich gerade an ein weiteres Mädchen wenden, als ihm von hinten zwei Arme um den Hals geschlungen wurden.
»Los, komm, wir gehen in dein Zimmer, Schnuckelchen«, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr und er roch den Alkohol in ihrem Atem.
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