»Hey, lass mich los.«
»Evan, hab dich nicht so. Komm mit, Schätzchen.«
Genervt drehte er sich herum und blickte in das Gesicht der Frau, die er als Achtjähriger tot vorgefunden hatte. Sie hatte dieselben kahlen und blutigen Stellen am Kopf, dieselben Blutergüsse und Schnitte auf der Haut.
»Evan, du kennst mich. Meine Zunge ist so trocken, hilf mir doch, mein Schöner!«
Evan entfuhr ein Wimmern aus den Tiefen seiner Kehle. Auf einmal drehte sich alles und die Musik nahm einen zähen Klang an. »Was zum Teufel—« Er wich erschrocken vor ihr zurück, rannte in die Menge.
Das konnte nicht wahr sein. Das war nicht real. Diese Frau war tot. Sein Vater hatte sie nicht gesehen, aber sie war tot.
Sie holte ihn wieder ein, schlang ihre blutigen aufgeschürften Arme um seinen Hals und streckte ihm ihre angeschwollene Zunge entgegen, dann presste sie mit gewaltiger Kraft ihre toten Lippen auf seine – hart und kalt und leblos.
Er stieß sie mit aller Kraft von sich, rannte wie ein Verrückter auf die Haustür zu und riss sie mit Tränen des Schrecks in den Augen ruckartig auf. Er wollte hinausstürzen, doch da stand sie vor ihm: Nackt und mit leeren Augen.
»Nein!«, rief er unter Schock. »Geh weg!«
Er schlug die Tür zu und taumelte zurück in die Menge. Er sah die Leute nicht, hörte nicht mehr die Musik. Ein Schleier hatte sich über seine Sicht gelegt.
Evan stieß irgendwelche Leute von sich, beachtete sie nicht, machte sich seinen Weg frei, während er die Stimme der Toten in seinem Kopf hörte: Evan, du kennst mich. Meine Zunge ist so trocken, hilf mir doch, mein Schöner!
Er rannte weiter, auf die Toilette zu. Irgendein Typ wollte gerade die Tür öffnen, aber Evan zog ihn am Pullover zurück und stieß ihn zu Boden. Dann schloss er sich ein und spuckte das Erbrochene, das seine Kehle hinaufkroch, in die Kloschüssel. Er kniete sich erschöpft davor und alles drehte sich.
Die Hand, die aus der Kloschüssel hinauskam und sich ihm entgegenstreckte, sah er jedoch klar und deutlich. Er schrie jäh auf und schlug den Toilettendeckel zu.
Evan hatte keine Ahnung, dass Violet jedes Detail seines Zusammenbruchs mit angesehen hatte. Begonnen mit dem Moment, als er mit jemandem gesprochen hatte, den sie selbst nicht sehen konnte. Sie ließ George einen Moment los und zog ihr Handy hervor. Dann wählte sie eine Nummer, eingespeichert als A.C. »Hey«, sagte sie. »Scheint, als hätte ich hier jemanden.«
»Komm schon, du Spinner!« Micks Stimme drang gemeinsam mit dem Tageslicht dumpf zu Evan durch. Er hörte ihn, als befände er sich unter einer Wasseroberfläche; in seinen Ohren rauschte es.
»Halloooo!?«, flötete eine weitere Stimme – Preston.
Evan wollte die Augen öffnen, aber konnte nicht. Er fühlte sich so schlapp, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich und nahm die Stimmen seiner Freunde wahr, als stünden sie nicht unmittelbar neben ihm, sondern würden ihn aus weiter Entfernung rufen. Seine Glieder waren schwer, sein Kopf wie mit Watte vollgestopft.
»Schön, mir reicht’s. Wir ergreifen andere Maßnahmen.«
Etwa eine Minute später wurde Evan von einem Schock erfasst, wie er ihn selten erlebt hatte. Er schnappte nach Luft und schreckte sofort hoch. »Was soll das!?«, rief Evan, der pitschnass in seinem Bett saß. »Habt ihr sie noch alle!?«
Preston, der den Eimer in der Hand hielt, in dem das eiskalte Wasser gewesen war, das jetzt Evans Bett, Haare und Kleidung durchnässte, schmunzelte.
»Alter, wir haben dich anders nicht wach gekriegt. Als hättest du im Koma gelegen.« Preston verging das Schmunzeln und er sah ihn jetzt ernsthaft besorgt an.
Und dann kam die Erinnerung zurück. An seine Ankunft, die Party, Violet und diese Frau. Die Frau, deren Leiche er vor elf Jahren gefunden hatte. Und dennoch hatte sie direkt vor ihm gestanden. Plötzlich dröhnte sein Schädel. Er erinnerte sich nicht daran, was passiert war, nachdem er die Hand in der Toilette gesehen hatte, geschweige denn wie er wieder ins Schlafzimmer gekommen war.
»Wie…Wieviel Uhr ist es?«, stammelte Evan und strich sich das nasse Haar aus der Stirn.
Mick und Preston sahen ihn an, als sei er ein Todkranker auf dem Sterbebett. Oder ein Außerirdischer.
»Fast zwei. Deine Mutter hat so um die hundert Mal hier angerufen«, antwortete Preston.
Evan nickte benommen. »Was ist gestern noch passiert, Leute?«
Preston und Mick warfen sich einen Blick zu, den Evan nicht zu deuten vermochte. Keiner von ihnen sagte etwas.
»Was denn? Was ist passiert?«, drängte Evan und schwang die Beine über die Bettkante, wobei ihn ein leichtes Schwindelgefühl überkam.
»Ich weiß ja nicht, ob du gestern getrunken hast, aber du bist echt … irgendwie abgedreht«, erklärte Preston zögerlich.
»Du hast sie auch gesehen, Pres, oder?«, stammelte Evan verwirrt. In seinem Kopf herrschte reines Chaos.
»W-Wen gesehen? Meinst du Violet? Ja, sie hat mitgekriegt, wie du auf’s Klo gerannt bist und mich geholt. Dann ist sie weg und hat George heimgebracht, diesen Vollidioten.«
Evan schluckte. Es war wieder das gleiche wie damals. Niemand außer ihm hatte sie gesehen. »Ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht hab ich einfach ‘nen Jetlag. Aber mir geht’s jetzt besser«, log er, obwohl er in Wahrheit gerade darüber nachdachte, ob es möglich war, dass er dabei war, den Verstand zu verlieren.
»Wenn du das sagst. Du solltest dich jetzt jedenfalls mal bei deiner Mum melden und ich werd‘ jetzt mal gehen.« Preston stand auf.
»Hast du hier geschlafen?«
»Irgendwer musste ja aufräumen, nachdem die Leute gegangen sind und den Fettsack hier kriegen keine zehn Pferde hoch.«
Mick warf Preston einen vernichtenden Blick zu.
»Also bis dann, Leute.«
»Danke, Pres. Ciao.« Bei Evan drehte sich noch immer alles.
»Und dir geht’s echt gut, Mann?«, fragte Mick, als die Tür hinter Preston ins Schloss fiel und griff in die Chipstüte, die neben ihm auf dem Bett lag.
»Ja, alles in Ordnung.« Evan stand mit bleischweren Gliedern auf und öffnete aus Gewohnheit seinen Schrank, um sich etwas zum Anziehen rauszusuchen, weil er die durchnässten Sachen vom Vortag trug, aber er hatte so gut wie all seine schicken Klamotten noch im Koffer – und wenn er heute seine Eltern sah, sollte er nicht gerade in verwaschener Jeans und abgetragenem Shirt da aufkreuzen. Er verließ also das Zimmer, ohne darauf zu achten, wie misstrauisch Mick ihn beäugte, und sah sich nach seinem Koffer um. Die ganze WG war erstaunlich sauber. Hier und da lag noch etwas rum, aber Preston hatte ganze Arbeit geleistet und Evan war ihm dafür unglaublich dankbar.
Er fand seinen Koffer schließlich dort, wo er ihn abgelegt hatte, aber der Schock traf ihn sofort: Er war offen! Evan kniete sich davor und musste mit Schrecken feststellen, dass einige seiner SD-Karten feucht waren, genauso wie ein paar der Klamotten, die oben lagen. »Scheiße«, fluchte er. »Oh nein, verdammt!«
Evan hatte in New York so viele wunderbare Fotos geschossen. Perfekte Beleuchtung, perfekte Perspektive - einfach perfekt. Und er hatte sie auch seinem Chef zeigen wollen. Der hätte sie echt toll gefunden und vielleicht sogar verwendet. Aber egal, Evan musste sich jetzt beeilen. Also zog er sein schwarzes Seidenhemd hervor, das zum Glück nichts von der nach Alkohol riechenden Flüssigkeit abgekriegt hatte, und schnappte sich seine dunkle Jeans. Beides hatte er zu seinem Neunzehnten von seinen Eltern geschenkt bekommen.
Er hielt inne und atmete kurz durch. Was war ihm da gestern passiert? Es gab keine auch nur ansatzweise logische Erklärung dafür. Niemand außer ihm hatte die Frau gesehen. Wieso nur? Und wieso war sie nicht tot, so wie er es in Erinnerung hatte? Das alles war außerhalb seiner Vorstellungskraft. Doch er konnte und wollte sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, sondern musste sich fertigmachen, dann seine Mutter anrufen und sie nach einem Jahr wiedersehen.
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